Gestern wurde der erste Internationale Kongress gegen das erzwungene Verschwindenlassen («enforced disappearance») eröffnet. Reporter ohne Grenzen nimmt am Kongress teil und ruft dort die Regierungen der teilnehmenden Länder auf, die internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor erzwungenem Verschwindenlassen zu ratifizieren. Unseren Zahlen zufolge sind staatliche Akteure für mehr als 45% der weltweit verschwundenen Journalisten verantwortlich.
Die Pressefreiheit wird weltweit von denjenigen bedroht, die sie eigentlich garantieren sollten: den politischen Behörden. Dieser Befund ging bereits aus der 2024 von RSF veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit hervor. Und er bestätigt sich, wenn man bedenkt, dass fast die Hälfte aller weltweit verschwundenen Journalisten von Behörden oder politischen Entscheidungsträgern selbst entführt wurden.
Von den 95 Journalistinnen und Journalsiten, von denen bislang jede Spur fehlt, sind mindestens 43 Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen geworden. Nach internationalem Recht definiert sich diese Art des Verschwindenlassens durch den Entzug der Freiheit durch eine offizielle Behörde, die sich gleichzeitig weigert, diesen Freiheitsentzug anzuerkennen. Ausserdem weigert sich die Behörde in gleicher Weise, den Verbleib oder den Aufenthaltsort der betroffenen Person zu offenbaren.
«Wie kann man sich vorstellen, dass Staaten, die angeblich die Pressefreiheit schützen, in Wirklichkeit die gleichen sind, die das Verschwinden von Journalistinnen und Journalisten inszenieren und ihre Hände dabei in Unschuld waschen? Das Verschwindenlassen ist das Schicksal von mindestens 43 Medienschaffenden, die heute weltweit unter Zwang stehen. RSF ist stolz darauf, sich durch die Teilnahme an diesem ersten Kongress für die weltweite Ratifizierung des UN-Übereinkommens gegen das Verschwindenlassen von Personen einzusetzen, diese Fälle zu untersuchen und zu veröffentlichen sowie mit nationalen und internationalen Gerichten zusammenzuarbeiten. Mit einem solchen Abkommen können die Täter bestraft und die Opfer entschädigt werden.»
Antoine Bernard
Direktor für Advocacy und Unterstützung bei RSF
Seit seiner Annahme dieses Internationalen Übereinkommens im Jahr 2006 und dem Inkrafttreten im darauffolgenden Jahr wurde es von 77 Staaten ratifiziert, darunter Bangladesch im August 2024, Mexiko im Jahr 2008, Burkina Faso im Jahr 2009 und Sri Lanka im Jahr 2016.
Mehrere symbolträchtige Fälle von Journalisten, die Opfer des Verschwindenlassens wurden:
- Aktuellster Fall: Habib Marouane Camara in Guinea
Der Direktor der Nachrichtenseite Le Révélateur 224, Habib Marouane Camara, wurde am 3. Dezember 2024 von Polizisten ohne Angabe von Gründen festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht. Seine Angehörigen haben seither nichts von ihm gehört. Der Journalist und Kritiker der herrschenden Junta in Guinea war auf dem Weg zum Haus des Geschäftsmannes Kerfalla Person Camara in Lambanyi, einer Gemeinde in der Hauptstadt Conakry. Dann hielt ihn ein Pickup der Polizei auf und fing ihn ab. Bewaffnete Männer in Militäruniform schlugen die Windschutzscheibe seines Wagens ein, zogen ihn heraus und nahmen ihn mit. Der Minister für Information und Kommunikation, Fana Soumah, sagte auf Anfrage von RSF, er habe «derzeit keine Informationen» über den Verbleib von Habib Marouane Camara.
- Verschwindenlassen und Requisitionen in Burkina Faso im Jahr 2024
Das Schicksal von Alain Traoré, einem Journalisten der Mediengruppe Omega Media, bleibt ein Rätsel. Der Moderator der Chronik «Le Défouloir» wurde am 13. Juli 2024 von Personen, die sich als Angehörige der Nationalen Nachrichtenagentur (ANR) ausgaben, aus seinem Haus entführt. Das ist ein ähnliches Vorgehen wie bei der Entführung von Serge Oulon, der am 24. Juni 2024 in seinem Haus festgenommen und entführt wurde. Zwei weitere Medienschaffende, Adama Bayala und Kalifara Séré, wurden ebenfalls im Juni entführt und anschließend festgehalten. Über ihren Aufenthaltsort oder ihren Gesundheitszustand sind keine Informationen bekannt.
- Ukraine: Journalistin wird Opfer russischer Streitkräfte
Die ukrainische Journalistin Zhanna Kyselova wurde am 27. Juni 2024 von den russischen Besatzungstruppen in ihrem Haus in Kakhovka, einer Stadt in der teilweise von Russland besetzten ukrainischen Region Cherson, festgenommen. Sie war die Chefredakteurin der Lokalzeitung Kakhovska Zorya, die nach der Invasion am 24. Februar 2022 geschlossen wurde. Über die Umstände ihres Verschwindens oder ihren jetzigen Aufenthaltsort liegen keine Informationen vor. Es ist nicht das erste Mal, dass die russischen Behörden Journalisten entführen, ohne sich dazu zu bekennen.
- Unterdrückung des Ortega-Regimes in Nicaragua: Fabiola Tercero Castro
Am 12. Juli 2024 verschwand die nicaraguanische Journalistin Fabiola Tercero Castro mit ihrer Familie, nachdem ihr Haus in der Hauptststadt Managua von sieben Polizisten durchsucht und ihre Arbeitsmaterialien dabei beschlagnahmt worden waren. Obwohl keine formelle Anklage gegen sie erhoben wurde, stand die Journalistin bereits unter Hausarrest und musste sich jeden Tag auf einer Polizeistation melden. Die Journalistin, die viele Jahre für verschiedene Medien, beispielsweise für das Onlinemagazin Galeria News gearbeitet hat, könnte sich in einem Staatsgefängnis befinden, obwohl es keine entsprechenden offiziellen Informationen dazu gibt. Das Regime von Präsident Daniel Ortega geht verstärkt gegen die wenigen unabhängigen Medienschaffenden vor, die noch im Land sind.
- Seit 15 Jahren in Sri Lanka Vermisst: Prageeth Eknaligoda
Der regierungskritische Karikaturist und politische Kolumnist der Nachrichtenseite Lanka E-news, Prageeth Eknaligoda, wurde am 24. Januar 2010 in Homagama, nahe der Hauptstadt Colombo, zwei Tage vor der Wiederwahl von Präsident Mahinda Rajapaksa entführt. Während der Fall seit 2019 ins Stocken geraten ist, fand am 6. Dezember 2024 vor dem Hintergrund der politischen Wende in Sri Lanka eine weitere Anhörung in einem Verfahren gegen neun Mitglieder des militärischen Geheimdienstes statt. Ihnen wird die Verantwortung für Eknaligondas Verschwinden zugeschrieben. Die neue Koalition des im September gewählten Präsidenten Anura Kumara Dissanayaka, die National People’s Power (NPP), versprach daraufhin «die Ermittlungen zu politischen Morden und Entführungen von Medienschaffenden» schnell zum Abschluss zu bringen.
- Mexiko: Land mit der höchsten Zahl an Fällen von Verschwindenlassen
Bisher sind sechs Medienschaffende in Mexiko Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen geworden: Evaristo Ortega Zarate (seit 2010), Federico Manuel García (seit 2012), José Alfredo Jiménez Mota (seit 2005), María Esther Aguilar Cansimbe (seit 2009), Mauricio Estrada Zamora (seit 2008) und Sergio Landa Rosado (seit 2013).