Hunderte Medienschaffende, die früher beim Bolloré-Konzern in Frankreich angestellt waren, wurden beim Ausscheiden aus ihrem Job gezwungen, Klauseln zur «Vertraulichkeit», «Nicht-Verunglimpfung» oder «Loyalität» zu ihrem alten Arbeitgeber zu unterzeichnen. Diese Praxis wurde in Frankreich in den letzten Monaten immer häufiger beobachtet. Die Klauseln zwingen die ehemaligen Mitarbeitenden in unverhältnismässigem Umfang, zu schweigen. Damit stellen sie die Interessen des Unternehmens über das Recht der Öffentlichkeit auf Information. RSF hat das Ausmass dieses Phänomens mit seinen bereits deutlich sichtbaren Folgen untersucht und fordert nun eine deutlich strengere Begrenzung des Geltungsbereichs dieser Klauseln für Journalistinnen und Journalisten – insbesondere wenn das Tätigkeitsfeld des Arbeitgebers über den Medienbereich hinausgeht.
«In Frankreich hat heute das Recht eines Unternehmens, seinen Ruf zu schützen, Vorrang vor dem Recht der Medienschaffenden, ihren Beruf auszuüben, sowie vor dem Recht der Öffentlichkeit auf Information. Die unverhältnismässigen Vertraulichkeits- oder Loyalitätsklauseln, zu deren Unterzeichnung viele Journalistinnen und Journalisten gedrängt werden, stellen eine Bedrohung für das Recht auf Information dar. Nicht die Rechtmässigkeit dieser Klauseln ist fragwürdig, sondern deren unbegrenzter Charakter. Dieser ist im Journalismus höchst anfechtbar ist – umso mehr in einem Kontext der Medienkonzentration in den Händen grosser Konzerne. Aufgrund ihrer Funktion sind Medienschaffenden keine Arbeitnehmer wie andere: Ihre Loyalität sollte sich in erster Linie gegenüber der Information und ihrem Publikum äussern. Stattdessen erleben wir die Einführung eines Systems der Schweigepflicht, von der selbst Vergütungen abhängig gemacht werden.»
Thibaut Bruttin
Generaldirektor von RSF
Diese nach Vertragsabschluss unterzeichneten Klauseln sind weder neu noch eine Eigenheit des Journalismus. Martin Benoist, ein auf Arbeitsrecht spezialisierter Anwalt sagt, dass die Klauseln sogar in «allen Transaktionsprotokollen» enthalten seien. In der Welt des Journalismus schränken diese Verpflichtungen (die gegenüber eines ganzen Konglomerates und ihne zeitliche Begrenzung gelten sollen) die Meinungsfreiheit und möglicherweise ihre berufliche Tätigkeit von Journalistinnen und Journalisten ein. Die Klauseln hindern diese, Themen im Zusammenhang mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber frei zu kritisieren oder zu untersuchen. Dies ist eine erhebliche Einschränkung, gerade in einer Zeit, in der die zahlreiche private Medien in Frankreich in den Händen weniger Aktionäre liegen. Ausserdem geben die Praktiken des Bolloré-Konzerns Anlass zu grosser Sorge. Sie sind ein Thema von öffentlichem journalistischen Interesse.
RSF hat nun Nachforschungen angestellt – insbesondere nachdem Jean-Baptiste Rivoire, ein ehemaliger Investigativjournalist bei Canal+, im Februar 2024 aufgrund dieser Klauseln zu einer Geldstrafe von 151’000 Euro verurteilt wurde, weil er das Bolloré-System in einem unserer Dokumentarfilme angeprangert hatte.
Seit 2016 haben bei I-Télé 148 Medienschaffende mit der Unterzeichnung dieser Schweigeklauseln gekündigt. Die Wellen von Abgängen, die in den folgenden Jahren bei Canal+ und auch bei Europe 1, beim Journal du Dimanche (JDD) oder auch bei Paris Match folgten, führten zu bis zu hundert Abgängen pro Redaktion, die jedes Mal mit den gleichen Klauseln einhergingen. Aufgrund von Dokumenten und Zeugenaussagen schätzt RSF, dass in Frankreich in den letzten zehn Jahren etwa 500 Journalisten an diese Art von Klauseln gebunden waren.
Diese Vertragsbestimmung, die vermutlich weit verbreitet ist, bleibt aufgrund der Art des von ihr auferlegten Schweigens schwer zu messen. «Die Klauseln sind so vage, dass man nicht weiss, wie lange man nichts sagen darf. Das führt zu einem Zustand ständiger Vorsicht», berichtet eine ehemalige Journalistin des JDD, die anonym bleiben möchte. Sie überlegt es sich zweimal, bevor sie sich in sozialen Netzwerken äussert oder in Erwägung zieht, an einem Artikel zu arbeiten, der in irgendeiner Weise mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber zu tun hat – Aus Angst, verklagt zu werden sowie die Abfindung für ihre einvernehmliche Kündigung zurückzahlen zu müssen.
«Das ist eine Massnahme, um Angst zu verbreiten», bestätigt ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des JDD. Beim Journal du Dimanche führte ein langer Streik im Sommer 2023 dazu, dass fast die gesamte Redaktion das Unternehmen verliess. Bei ihrem Ausscheiden gingen ihre Abfindungen «mit Vertraulichkeits- und Loyalitätsverpflichtungen» gegenüber ihrem ehemaligen Arbeitgeber – Lagardère News – einher. Die zeitlichen und rechtlichen Umrisse dieser Verpflichtungen sind dabei unklar. Sieben Jahre zuvor hatten die Medienschaffenden des 24-Stunden-Nachrichtensenders i-Télé (heute CNews) ein ähnliches Szenario erlebt. Dasselbe gilt für den Radiosender Europe 1, das Magazin Paris Match, den Fernsehsender Canal+ und weitere.
Emmanuel Vire, Gewerkschaftsvertreter beim Nationalen Journalistenverband (SNJ), bestätigt, dass es diese Klauseln im Medienkonzern Prisma Media, für den er seit über 20 Jahren arbeitet, schon immer gegeben hat. Er meint aber, dass sie «verschärft» worden seien. «Früher gab es nur einen Absatz, der die Mitarbeiter daran hinderte, Prisma nach ihrem Ausscheiden vor Gericht zu verklagen. Es blieb dabei bei einem arbeitsrechtlichen Konflikt zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmen», erklärt er. In den Aufhebungsverträgen wurde dennoch festgelegt, dass der ausscheidende Arbeitnehmer gegenüber der Prisma-Gruppe eine «Pflicht zur beruflichen Loyalität und Diskretion» behalten müsse. Aber seit der Übernahme durch Vivendi im Jahr 2021 sind in den vertraglichen Auflösungen die Nicht-Verleumdung sowie die Unmöglichkeit, vor Gericht gegen Prisma Media auszusagen enthalten – es sei denn, man ist gesetzlich dazu verpflichtet.
Unklare Klauseln
Bei ehemaligen Mitarbeitern von JDD und Paris Match besagen diese Klauseln, die RSF einsehen konnte, dass die ehemaligen Mitarbeiter keine «Handlungen» oder «Verhaltensweisen» unternehmen oder keine «negativen Kommentare» abgeben dürfen, die «die Interessen und/oder den Ruf von Lagardère Media News», der Muttergesellschaft der beiden Medien bis zur Übernahme von Paris Match durch LVMH im Jahr 2024, beeinträchtigen könnten. Die Vereinbarung geht sogar noch weiter, indem sie diese Verbote auf «jede andere Einheit der Lagardère-Gruppe und/oder ihre Führungskräfte und/oder ihre Mitarbeiter» ausweitet – ohne zeitliche Begrenzung. Zehn Jahre nach seinem Ausscheiden bei Paris Match darf ein ehemaliger Mitarbeiter nicht über die Hintergründe des Titels sprechen. Er ist sich auch nicht im Klaren darüber, ob es ihm möglich ist, über ein Thema zu recherchieren, das beispielsweise mit dem Folies Bergères oder dem Casino de Paris, die beide zum Konzern gehören, zu tun hat.
Obwohl er sich nicht wirklich Sorgen um die Folgen dieser Klausel auf seine Meinungsfreiheit macht, gibt der ehemalige Journalist von Europe 1, Patrick Cohen, zu, sich über deren Tragweite Gedanken gemacht zu haben: «Ich wusste nicht, ob sie die derzeitigen Führungskräfte [bei Lagardère News] oder auch die nächsten, die Aktionäre usw. betrifft.» Bedeutet diese fehlende Abgrenzung, dass die ehemaligen Mitarbeiter den Vivendi-Konzern (den neuen Hauptaktionär von Lagardère, der Vincent Bolloré gehört) nicht kritisieren dürfen?
Eine Behinderung des Rechts auf Information
«Wenn diese Journalisten weiterhin in der Branche arbeiten, recherchieren und etwa im Fernsehen auftreten wollen, dann gehen sie mit einer Krücke», warnt Rechtsanwalt Martin Benoist. «Die Loyalitätspflicht ist problematisch, weil die Definition von ‚Loyalität‘ im Universum von Bolloré sehr weit gefasst ist», kommentiert ein anderer Anwalt, der einige Medienschaffende bei ihren Verhandlungen begleitet hat. Aufgrund der Sensibilität des Themas wollte dieser aufgrund des vertraulichen Charakters der Vereinbarungen anonym bleiben.
Viele zögern unter diesen Umständen, bevor sie ihre vergangenen Erfahrungen gegenüber RSF teilen.«Ich habe immer sehr darauf geachtet, was ich sage», bezeugt ein ehemaliger Journalist von I-Télé. «Das Netzwerk von Bolloré ist offensiv und aggressiv und hat grosse Mittel für rechtliche Schritte.» Tatsächlich könnte der investigative Journalist Jean-Baptiste Rivoire dafür bezahlen. 2021 veröffentlichte RSF den Dokumentarfilm Le Système B – L’information selon Vincent Bolloré, in dem der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Sendung«Spécial Investigation» auf Canal+ den Druck auf den investigativen Journalismus anprangert, der «zensiert, beschädigt und unterdrückt wird», seit der bretonische Magnat den Sender übernommen hat. Rivoire hatte Bolloré im Dokumentarfilm öffentlich als «jemanden, der mit Terror regiert», beschrieben.
Für das Arbeitsgericht Boulogne-Billancourt sind diese Äusserungen «geeignet, [den] Ruf [der Führungskräfte von Canal+] zu schädigen und ihre Ehre und Wertschätzung zu beeinträchtigen». Der Journalist verteidigt vor allem seine Meinungsfreiheit, die durch diese Klausel «unverhältnismässig beeinträchtigt» werde. Auf Antrag der Verteidigung wollte RSF als Zeuge auftreten, um in dieser Angelegenheit Aufschluss zu geben. Aber die Justiz war der Ansicht, dass dieser Rechtsstreit ausschliesslich in den Bereich des Arbeitsrechts fällt.
RSF kontaktierte Canal+. Der Sender hat unsere Fragen und Interviewanfragen zu diesem Fall und zu seiner Politik in Bezug auf von seinen ehemaligen Mitarbeitern unterzeichnete Klauseln allerdings nicht beantwortet. Auch Lagardère News und Vivendi liessen unsere Anfragen unbeantwortet.
Mit leeren Händen gehen oder verhandeln, um sein Schweigen zu erkaufen
Der Arbeitgeber argumentiert manchmal, dass die Journalisten nicht gezwungen sind, die besagten Klauseln zu unterschreiben. Etwa der Präsident des Canal +-Konzerns, Maxime Saada, der im Februar letzten Jahres im Rahmen der Untersuchungskommission zum Thema TNT befragt wurde. Er betonte den freiwilligen Charakter der Kündigungen innerhalb des Senders und führte die «sehr zufriedenstellenden wirtschaftlichen Bedingungen» sowie explizit den Fall von Jean-Baptiste Rivoire an.
Aber auf der Seite der Medienschaffenden ist die Meinung eine ganz andere. «Man befindet sich in einer Situation, in der man gehen möchte. Insbesondere nicht unter irgendwelchen Bedingungen. Aber man muss einen Kompromiss finden, obwohl man nicht aus einer Position der Stärke argumentiert», sagt ein ehemaliger Journalist von I-Télé. «Man fragt sich, welche Möglichkeiten man hat, wenn man sich weigert zu unterschreiben.»
«Ich wusste, dass es im Gegenzug für die einvernehmliche Kündigung eine Klausel geben würde», bestätigt eine ehemalige Journalistin von Paris Match. «Aber ich hatte nicht die Energie, vor Gericht zu gehen.» Das Dilemma für die abgehenden Journalisten lässt sich auf Folgendes reduzieren: mit leeren Händen gehen, also kündigen, oder die mit den Abfindungen verbundenen Bedingungen akzeptieren.
Das Geld ist auch ein Mittel, um wieder durchzustarten – insbesondere in einem Kontext, in dem zahlreiche Medienschaffende gleichzeitig auf den Arbeitsmarkt zurückkehren. Beim Journal du Dimanche sprechen die sprechen die Zahlen für sich: Von 83 ehemaligen streikenden Journalistinnen und Journalisten, von denen die Hälfte einen unbefristeten Vertrag hatte, haben nur 18 ein Jahr nach ihrem Ausscheiden wieder einen solchen sicheren Vertrag gefunden.
Justiz und parlamentarische Untersuchungsausschüsse behindert
Wenn sie nicht auf die Abtretungsklausel zurückgreifen können, haben sich nur wenige diesem Druck des Schweigens widersetzt. Nach 20 Jahren bei Paris Match hat die Journalistin und gewählte Vertreterin der Journalistenvereinigung (SDJ) Caroline Fontaine ihre Entlassung vor dem Arbeitsgericht angefochten. Vorherige Verhandlungen hat sie nicht in Betracht gezogen, da die Klauseln eine Einigung beinhaltet hätten. «Das ist völlig widersprüchlich», prangert sie an. «Wie kann man uns, deren Aufgabe es ist, Zeugenaussagen zu sammeln und zu informieren, daran hindern, zu ernsten Themen Stellung zu nehmen?»
Auch wenn sie sich dafür entschieden hat, ihre Redefreiheit zu bewahren, ist Caroline Fontaine von diesen Klauseln betroffen, da sich ihre ehemaligen Kollegen, die den Verhandlungsweg gewählt haben, unter anderem dazu verpflichten, «sich jeglicher direkten oder indirekten Beteiligung an Verfahren zu enthalten, an denen eines der Unternehmen der Gruppe beteiligt ist». Folglich können sie nicht aussagen, um ihre Argumente vor Gericht zu untermauern. «Ich kann sagen, was ich will, aber wenn niemand das bezeugt, steht Aussage gegen Aussage», bedauert die Journalistin.
Das Schweigen hat sogar Auswirkungen auf die Untersuchungsausschüsse. Bei seiner Anhörung zum Thema Medienkonzentration im Jahr 2022 erinnerte der ehemalige Journalist von Europe 1, Olivier Samain, daran, dass er sich «auf einem schmalen Grat befinde, der auf der einen Seite durch die Notwendigkeit, [Fragen] zu beantworten, und auf der anderen Seite durch diese Loyalitätsklausel begrenzt ist». Der Senator der Parti socialiste und Berichterstatter dieser Kommission, David Assouline, erzählt in einem Interview für die Nachrichtenseite Arrêt sur images im September 2023, dass ihn Medienschaffende kontaktiert hätten, um ihre Zeugenaussagen anonym zu machen – aus Angst vor Repressalien.
RSF selbst hat dies im Rahmen der Untersuchung der Europäischen Kommission zum Fall des «Gun Jumping» von Vivendi gegenüber Lagardère erlebt: Als interessierte Partei hat RSF versucht, Zeugenaussagen zur vorzeitigen Übernahme zu sammeln. Aber viele Medienschaffende hatten aufgrund dieser Vertraulichkeitsklauseln Angst, sich zu äussern oder von der Kommission gehört zu werden. Als RSF am 11. Juli 2024 in der Zeitung Libération einen Artikel veröffentlichte, um die Transformation des Radiosenders Europe 1 in eine Meinungsmaschine anzuprangern, waren 37 der 63 Unterzeichner gezwungen, anonym zu bleiben, weil sie durch besagte Nicht-Verunglimpfungsklauseln zum Schweigen gebracht werden, die sie bei Europe 1 bei den 2021 beschlossenen Abgängen unterschreiben mussten.
«Wie ist es möglich, dass in Frankreich heute Hunderte von Medienschaffenden solche Klauseln unterschreiben müssen?», prangerte Jean-Baptiste Rivoire im März 2024 bei seiner Anhörung vor dem parlamentarischen Ausschuss für die Vergabe von DVB-T an. Da sich das Bolloré-System durch eine brutale Methode zur Festigung der Macht des Aktionärs, durch eine Missachtung der elementaren Regeln des Journalismus sowie durch eine Geringschätzung der Geschichte einzelner Medien auszeichnet, ist es wichtig, dass Journalisten von ihren Erfahrungen in diesen Medien berichten können. «Indem sie Journalistinnen und Journalisten zum Schweigen bringen, verhindern sie, dass die Bevölkerung darüber informiert wird, was vor sich geht», fasst der Enthüllungsjournalist Rivoire zusammen. Und er betont, dass «solche Klauseln in einer Demokratie nicht zu tolerieren sind». Sein Berufungsverfahren wird ein entscheidender Moment sein, um das Recht auf Information zu verteidigen und einen Präzedenzfall zu vermeiden, der das Recht von Unternehmen über die Meinungsfreiheit und das Recht auf Information stellt.
Eine Untersuchung von Haïfa Mzalouat
Wenn Sie Informationen haben, die Sie mit uns teilen möchten, zögern Sie nicht, uns unter hmzalouat[at]rsfsecure.org zu kontaktieren.