Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat nicht nur das Land, sondern auch die ukrainischen Medien in eine beispiellose Wirtschaftskrise gestürzt. Angesichts dieser Herausforderungen veröffentlicht Reporter ohne Grenzen (RSF) in Zusammenarbeit mit dem Think Tank «The Fix» den Bericht: «Von der Widerstandsfähigkeit zum Wiederaufbau – die Zukunft der ukrainischen Medien sichern». RSF fordert darin die Einrichtung eines Internationalen Fonds für den Wiederaufbau der ukrainischen Medien (IFRUM), um die Unabhängigkeit der Medien zu gewährleisten und das Recht auf Information im Land zu wahren.
«Die ukrainischen Medien haben seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 dank einer insgesamt robusten Medienlandschaft im Land eine aussergewöhnliche Widerstandsfähigkeit bewiesen. Ihre Situation bleibt allerdings fragil: Journalisten werden bedroht, die Medieninfrastruktur ist teilweise zerstört und die Wirtschaftskrise hat zur Schliessung von mindestens 235 Medien beigetragen. Der neue Bericht von RSF zeigt, dass es dringend notwendig ist, sich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Sektors zu konzentrieren. Die dafür in Zukunft erforderlichen Mittel werden im Bericht auf 96 Millionen US Dollar beziffert – über einen Zeitraum von drei Jahren. RSF ruft internationale Geldgeber daher dazu auf, sich dieser Initiative zur Schaffung eines Internationalen Fonds für den Wiederaufbau der ukrainischen Medien (IFRUM) anzuschliessen.»
Thibaut Bruttin
Generaldirektor von RSF
Hier können Sie den Bericht auf Englisch lesen.
Die Kernpunkte des Berichts
1. Die russische Invasion hat die Medienlandschaft erschüttert
Tägliche Bombardements, getötete Journalisten, Personalmangel, grossflächige Desinformation… Seit dem 24. Februar 2022:
- … ist die Sicherheit von Journalisten gefährdet. Zwölf Medienschaffende wurden getötet, mindestens 43 verletzt, 20 befinden sich in russischem Gewahrsam.* Russische Bombardements beschädigten in über zwei Jahren rund 20 Fernsehtürme.
- … verlieren Redaktionen Personal. Die bereits vor 2022 bestehenden Rekrutierungsschwierigkeiten der Branche wurden durch die Mobilisierung von Journalisten für die ukrainische Armee sowie durch die Flucht ins Ausland verschärft.
- … arbeiten Journalisten unter dem wachsenden Druck der politischen und militärischen Behörden. Diese beschränken u.a. den Zugang zu bestimmten Gebieten.
- … begünstigt der veränderte Informationskonsum der Öffentlichkeit die Verbreitung von Desinformation. Soziale Netzwerke, insbesondere Telegram, welches keiner Regulierung unterliegt, sind zur wichtigsten Quelle für Informationen, aber auch für Desinformation geworden. Die traditionellen Medien haben die schwierige Aufgabe, die auf diesen Plattformen verbreitete russische Propaganda zu widerlegen und gleichzeitig weiterhin über die eigentlichen Nachrichten zu berichten.
- … sind die Einnahmen der Medien eingebrochen, wobei allein die Werberessourcen zwischen 2021 und 2022 um fast 61% gesunken sind.
2. Die Wirtschaftskrise wird den Mediensektor langfristig schwächen
Ohne stabile Einnahmequellen – wie etwa durch Werbung, Abonnements oder einmalige Einnahmen durch Crowdfunding – haben viele ukrainische Medien ihre finanzielle Autonomie verloren und sind auf wirtschaftliche Unterstützung von Geldgebern angewiesen.
Während sich einige wenige lokale Medien zwar über Wasser halten können, ist die Mehrheit stark von der Wirtschaftskrise betroffen. Im Jahr 2021 bestand das Budget von 70% aller lokalen Medien zu einem grossen Teil aus kommerziellen Einnahmen (bis zu 90%). Zwei Jahre später konnten nur noch 14% der Medien dieses Niveau erreichen. Das macht die Unterstützung von Geldgebern und Spendern unabdingbar.
Diese kritische Situation führt vielerorts dazu, dass sich immer mehr Gebiete in Informationswüsten verwandeln, in denen keine qualitative und unabhängige journalistische Berichterstattung mehr möglich ist.
3. Mit 96 Millionen US-Dollar gegen die Schliessung von Medien vorgehen
Parallel zu dem alarmierenden Rückgang ihrer Einnahmen sind die Betriebskosten der Redaktionen um durchschnittlich 24% gestiegen. Dies ist auf die Inflation zurückzuführen, die bis 2022 auf 20% gestiegen ist. Ein weiterer, neuer Kostenpunkt ist der Kauf neuer Sicherheits- und Energieausrüstungen sowie die Verlagerung von Teams in abgelegenere Gebiete mit höheren Mieten.
Ohne nachhaltige Unterstützung drohen noch mehr lokale und regionale Publikationen zu verschwinden. Durch die Untersuchung der Budgets von 42 Medien und der wirtschaftlichen Situation des Sektors zeigt der Bericht von RSF, dass 96 Millionen US-Dollar über drei Jahre benötigt werden, um die Arbeit der unabhängigen ukrainischen Medien aufrechtzuerhalten und gleichzeitig alle Verwaltungskosten zu decken.
Die Empfehlungen von RSF
Ausgehend von diesen Erkenntnissen formuliert RSF sechs Empfehlungen an internationale Geldgeber sowie an die ukrainische Regierung:
1. Den Wiederaufbau des ukrainischen Medienökosystems durch die Einrichtung eines Internationalen Fonds für den Wiederaufbau der ukrainischen Medien (IFRUM) finanzieren.
RSF fordert die Einrichtung eines Internationalen Fonds für den Wiederaufbau der ukrainischen Medien (IFRUM): Dabei soll es sich um einen transparenten, autonomen und unabhängigen Finanzierungsmechanismus handeln, der von einem unabhängigen Ad-hoc-Ausschuss überwacht wird. Dessen Mitglieder sollen eine Vielfalt an internationalen Akteuren repräsentieren, die sich für den Journalismus engagieren.
2. Entwicklung einer finanziellen Unterstützung mit einer Konditionalität, die auf Transparenzstandards beruht.
Zuverlässige Informationen müssen gestärkt und geschützt werden, und die Vergabe von IFRUM-Mitteln muss auf der Grundlage von Qualitäts- und Transparenzkriterien entschieden werden. Investitionen sollten von den ethischen Verpflichtungen der Medien abhängig gemacht werden.
3. Zusätzliche wirtschaftliche Massnahmen zur Wiederbelebung des Mediensektors in der Ukraine umsetzen.
Um die Wirkung des IFRUM zu verstärken, muss die ukrainische Regierung parallel dazu eine Reihe gezielter wirtschaftlicher Massnahmen ergreifen, die es den Medien ermöglichen, ihre langfristigen Investitionen wieder aufzunehmen.
4. Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Medien.
Die ukrainische Regierung sollte die Rolle der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Suspilne aufwerten und gleichzeitig sicherstellen, dass sie ihre vollständige redaktionelle und finanzielle Unabhängigkeit gemäss den Kriterien in Artikel 5 des European Media Freedom Act (EMFA) beibehält.
5. Schluss mit willkürlichen Beschränkungen und staatlichem Druck.
Es ist nicht länger angebracht, kostspielige und unnötig restriktive Massnahmen wie den United News Telemarathon im Fernsehen aufrechtzuerhalten. Die ukrainischen Behörden müssen darüber hinaus auf jede Form von ungerechtfertigtem Druck auf Journalisten verzichten und diese nicht an deren Recht, über den Krieg zu berichten, hindern, indem sie ihnen den Zugang zu bestimmten Gebieten verwehren.
6. Schaffung eines rechtlichen Rahmens zur Bewältigung der Informationskrise.
Die ukrainische Regierung muss eine unabhängige Behörde zur Regulierung von Plattformen (IPRA; Independent Platform Regulatory Authority) einrichten. Das Hauptziel dieser Behörde wird es sein, jährliche Berichte über den «Stand der Desinformation» zu erstellen. Darin sollen bestimmte Inhalte auf Online-Plattformen wie Telegram analysiert werden.
*Die Zahlen im Bericht «Von der Widerstandsfähigkeit zum Wiederaufbau, Sicherung der Zukunft der ukrainischen Medien» über tote, verletzte und inhaftierte Journalisten beziehen sich auf den Stand vom September 2024.