Dass sein kritischer Artikel über das Dorf (Foto Keystone-SDA), in dem er lebt, kritische Reaktionen auslösen würde, hat der Walliser Journalist Samuel Burgener erwartet. Nicht gerechnet hat er damit, dass die Reaktionen so massiv ausfallen würden. Ihm wurde sogar die Teilnahme an Volleyball- und Unihockey-Spielen im örtlichen Turnverein untersagt.
«Jeden Sommer machen über 2000 streng orthodoxe Juden Ferien im Saastal. Ihre Anwesenheit entzweit die Bevölkerung eines Dorfes. Es geht um kulturelle Konflikte, fehlende Worte und – um Geld.»
Der Text, der zu diesem Lead gehört, erschien am 10. August im «Walliser Boten» und in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ). Er beschreibt das Verhältnis zwischen den Einheimischen und den jüdisch-orthodoxen Touristen im Walliser Ferienort Saas-Fee und die Probleme, die daraus entstehen.
Es ist kein Schlagzeilen-Text, der Ton ist ruhig, aber der Artikel hat offenbar einige Nerven getroffen. Verfasst haben ihn Angelika Hardegger von der NZZ und Samuel Burgener, Blattmacher beim «Walliser Boten». Burgener hatte von 2013 bis 2020 ebenfalls für die NZZ gearbeitet; wochentags war er deshalb in Zürich, an den Wochenenden an seinem Walliser Wohnort: Saas-Fee. Seit er im Februar dieses Jahres zum «Walliser Boten» kam, lebt er wieder mehrheitlich in Saas-Fee.
Mit 1700 Einwohnerinnen und Einwohnern ist Saas-Fee klein. Man kennt sich. Deshalb bekam Burgener voll zu spüren, was der Text im Dorf auslöste. Dass es Reaktionen darauf geben würde, hatte er erwartet. Aber nicht, dass sie so massiv ausfallen würden. Sie waren harsch, der Tenor war, er, Burgener, habe das Dorf durch den Dreck gezogen. Die Kommentare kamen per Mail, via Whatsapp, direkt auf der Strasse, es gab Drohungen. Kollegen und langjährige Bekannte sprachen nicht mehr mit ihm und behandelten ihn wie Luft. Und seine Familie musste sich auf der Strasse ebenfalls Gehässigkeiten anhören.
Burgener ist in Saas-Fee verankert und war auch in Vereinen aktiv. Unter anderem spielte er Volleyball und Unihockey im Turnverein, dem Verein Poly Sport Saas-Fee. Dessen Präsident, Denis Bumann, teilte ihm schliesslich mit, er sei wegen des Artikels im Verein nicht mehr erwünscht. «Das hat mich geschockt», sagt Burgener: «Das ist für mich soziale Ächtung.»
Als er auf der Redaktion davon erzählte, war für Herold Bieler, den publizistischen Leiter der «Walliser Bote»-Herausgeberin pomona.media AG, klar, dass man darauf reagieren musste. «Da gibt es nichts zu verhandeln», sagt Bieler. Im Lokaljournalismus sei die Nähe zu den Protagonisten sehr gross, das Oberwallis sei klein, und es sei zu erwarten gewesen, dass es Reaktionen gebe. Aber: «Es war ein guter Beitrag. Wir haben schon früher die Erfahrung gemacht, dass kritische Berichte über Tourismus und Bergbahnen im Saastal heftige Reaktionen und Abo-Kündigungen zur Folge hatten. Aber so weit ging es bisher noch nie.»
Bieler setzte einen Brief an den Präsidenten des Turnvereins auf, auch pomona.media-Verleger Fredy Bayard sowie NZZ-Chefredaktor Eric Gujer und die Leiterin des NZZ-Inland-Ressorts, Christina Neuhaus, unterzeichneten ihn. Sie bezeichneten den Entscheid als «willkürlich» und «diskriminierend» und verurteilten «die soziale Ächtung von Samuel Burgener und seiner Familie aufs Schärfste». Und: Das Verhalten des Präsidenten sei auch «ein Schlag gegen die Pressefreiheit».
Den Brief an Denis Bumann schickte Bieler auch an die Gemeindeverwaltung Saas-Fee, an den Presserat, an die Jungen Journalistinnen & Journalisten Schweiz, an die «Schweizer Journalist:in» sowie an RSF Schweiz. Presserats-Präsidentin Susan Boos reagierte, wies Bumann in einem Schreiben darauf hin, dass es «für solche Fälle» die Möglichkeit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat gebe, und ergänzte: «Wir kennen den konkreten Fall nicht und möchten uns deshalb nicht spezifisch dazu äussern. Grundsätzlich gilt aber, dass es nicht annehmbar ist, professionelle JournalistInnen von öffentlichen Veranstaltungen auszuschliessen oder sie sozial zu ächten.»
Auch Turnvereins-Präsident Bumann reagierte; es gab ein Gespräch mit Burgener und einen Entschuldigungsbrief. «Nach einem konstruktiven und persönlichen Gespräch und einer schriftlichen Stellungnahme an Herrn Samuel Burgener ist dieses Thema für Samuel Burgener und für mich abgeschlossen», schrieb er auf eine entsprechende Anfrage von RSF Schweiz.
Burgener wird nicht mehr im Turnverein mittun. «Ich finde das Ganze absolut niederträchtig», sagt er: «Es hat mich enorm geschmerzt und schmerzt auch meine Familie.»