Fünf Journalisten getötet, 131 inhaftiert, Hunderte wegen der Ausübung ihres Berufs «gerichtlich» verfolgt, 77 wegen «Beleidigung des Präsidenten» verurteilt: Reporter ohne Grenzen (RSF) zieht eine ernüchternde Bilanz der letzten zehn Jahre in der Türkei, in denen Recep Tayyip Erdogan an der Macht war. Der Präsident hat seinen Griff auf die nationalen Medien kontinuierlich verstärkt. RSF fordert deswegen die Wiederherstellung der Pressefreiheit im Land.

Innerhalb von zehn Jahren hat Recep Tayyip Erdogan in der Türkei ein System der Hyperpräsidentschaft errichtet, das die Pressefreiheit und den Informationspluralismus stark beeinträchtigt. RSF enthüllt eine ernüchternde Bilanz, die das Ausmass des Kreuzzugs gegen den Journalismus belegt, den Präsident Erdogan seit mehr als einem Jahrzehnt führt.

Dieses repressive Jahrzehnt hat den unabhängigen Journalismus eindeutig an den Rand des Aussterbens gebracht. Die Instrumentalisierung der Justiz und des öffentlichen Rundfunks sowie der Griff nach Medieneigentum und Regulierungsinstitutionen haben das Recht auf Information, ohne das ein Rechtsstaat nicht existieren kann, gefährdet. Die Türkei muss aus diesem Albtraum aufwachen und ein neues Kapitel aufschlagen. RSF fordert den Präsidenten auf, schnell Massnahmen zu ergreifen und tiefgreifende Reformen durchzuführen, um unabhängige Journalisten zu schützen und endlich das Recht auf Information im Land zu gewährleisten.

Erol Onderoglu
RSF-Vertreter in der Türkei

Bereits vor Erdogans Präsidentschaft: 150 Journalisten während der Gezi-Proteste 2013 angegriffen

Recep Tayyip Erdogans autoritäre Führung und seine Angriffe auf Journalisten begannen bereits vor seiner Amtszeit als Präsident. Während er Premierminister war, kam es bei den regierungsfeindlichen Gezi-Protesten in Istanbul im Frühjahr 2013 zu einer beispiellosen Spirale der Gewalt gegen Medienschaffende. Zwischen Mai und September 2013 wurden in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir mehr als 150 von ihnen von Sicherheitskräften angegriffen, ohne dass letztere dafür bestraft wurden. Dieses harte Durchgreifen war ein Vorgeschmack auf die Straffreiheit im neuen autoritären Konzept der Machthaber: Insgesamt wurden nur drei Journalisten für die erlittenen Schäden entschädigt.

Über 85% der nationalen Medien werden von der Regierung kontrolliert

Premierminister Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) richteten ein Finanzsystem ein, mit dem sie Medienunternehmen beschlagnahmen und an regierungsnahe Unternehmen veräussern können, sofern deren Aktionäre ihre Schulden an den Staat nicht zurückzahlen können. Heute werden mehr als 85% der privaten nationalen Medien von Unternehmen kontrolliert, die der Macht nahe stehen oder strategische Interessen haben.

Diese starke Kontrolle über die Medien, die Erdogan auf den öffentlichen Rundfunk (TRT) und den Hohen Rat für audiovisuelle Medien (RTÜK) ausübt, begünstigte im Übrigen seinen dritten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023. Der vorausgehende Wahlkampf wurde eindeutig eindeutig durch eine diskriminierende Behandlung von Erdogans Kontrahenten in den Medien beeinträchtigt.

Kampf gegen die Informationsfreiheit seit 2014: Mindestens 131 Journalisten inhaftiert

Gerichtsverfahren und Inhaftierungen sind die bevorzugten Mittel der Regierung Erdogan, um Medienschaffende einzuschüchtern und Debatten über Autoritarismus, die Kurdenfrage, Korruption oder politischen Klientelismus zu verhindern. Ausserdem werden dadurch investigative Journalisten daran gehindert, unangenehme Fälle aufzudecken. Von den 131 Journalisten, die seit Beginn der Präsidentschaft Erdogans im Jahr 2014 inhaftiert waren, wurden mindestens 40 verurteilt.

Im Jahr 2018 wurde die Türkei vor dem Hintergrund des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch im Juli 2016 verhängt wurde, zum grössten Gefängnis der Welt für Journalisten: In zahlreichen Redaktionen, wie denen der Tageszeitungen Cumhuriyet, Sözcü, Özgür Gündem, Zaman usw., kam es zu unzähligen willkürlichen Verhaftungen.

Mittlerweile haben die Massenverhaftungen von Journalisten zwar nachgelassen und die Zahl der inhaftierten Journalisten (aktuell vier) war seit Jahrzehnten nicht mehr so niedrig. Dennoch sind gerichtliche Schikanen gegen Medienschaffende im Land weiterhin an der Tagesordnung. In den letzten Jahren wurden insbesondere investigative Journalisten, Fernsehmoderatoren und als widerspenstig geltende Reporter wie Tolga Sardan, Merdan Yanardag, Baris Pehlivan, Abdurrahman Gök und Furkan Karabay festgenommen.

Von «Terrorismus» bis «Beleidigung des Präsidenten»

Medienschaffende werden auf Basis einer Vielzahl von Anklagen gerichtlich verfolgt: «Propaganda für eine terroristische Organisation», «Gefährdung eines Antiterroragenten durch terroristische Organisationen» auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes (TMK), «Beleidigung eines Amtsträgers», «Beleidigung des Präsidenten» oder «Verunglimpfung der staatlichen Institutionen» auf der Grundlage des Strafgesetzbuches (TCK). Innerhalb von zehn Jahren hat die Nachrichtenseite Bianet.org (ein Partner von RSF in der Türkei) 77 Journalisten gezählt, die wegen «Beleidigung des Präsidenten» durch Artikel, Leitartikel, Kommentare oder Teilen in sozialen Netzwerken verurteilt wurden.

Der Prozess gegen den Vertreter von RSF in der Türkei, Erol Onderoglu, die Menschenrechtsverteidigerin Sebnem Korur Fincanci und den Journalisten Ahmet Nesin dauert bereits seit mehr als acht Jahren an. Alle drei wurden wegen «PKK-Propaganda» angeklagt,  weil sie im Mai 2016 an einer journalistischen Solidaritätskampagne für die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem teilgenommen hatten. Die Zeitung wurde im Zuge des Ausnahmezustands 2016 kurzerhand geschlossen wurde. Und die zu ihren Gunsten ausgesprochenen Freisprüche wurden im Oktober 2020 nach einer öffentlichen Intervention von Präsident Erdogan wieder aufgehoben.

Die Repressionen der Erdogan-Administration kennen keine Grenzen: Exiljournalisten wie Erk Acarer, Hayko Bagdat oder Fehim Tastekin werden seit Jahren wegen ihrer journalistischen Tätigkeit strafrechtlich verfolgt oder administrativen Repressalien unterworfen.

Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, wurde seinerseits von Recep Tayyip Erdogan persönlich bedroht. «Derjenige, der diesen exklusiven Artikel unterzeichnet hat, wird dafür sehr teuer bezahlen. Ich werde ihn nicht so belassen»,, hatte Erdogan über Dündar gesagt. Der Journalist musste nicht nur ins Exil gehen, sondern wurde auch in absentier zu 27 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt – wegen eines kritischen Artikels aus dem Jahr 2015 mit dem Titel «Hier sind die von Erdogan für inexistent erklärten Waffen».

Digitale Plattformen wurden blockiert

Ausserdem wurden Soziale Medien und Websites von der Erdogan-Administration wiederholt zensiert. Zuletzt wurde Instagram am 2. August wegen Verstössen gegen «Katalogvergehen» – von Missbrauch von Minderjährigen bis hin zur Förderung von Drogen – unzugänglich gemacht. Die ohne Details angekündigte Zugangssperre basiert auf Artikel 8 des Internetgesetzes, das es ermöglicht, Inhalte oder Seiten aus einer Reihe von Gründen unzugänglich zu machen, darunter «Pornografie», «Verkauf von gesundheitsgefährdender Produkte», «Anstiftung zum Selbstmord» oder die Image-Schädigung von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei.

Die Sperre erfolgte, nachdem Instagram die Beileidsbekundung von Recep Tayyip Erdogan zum Tod des Hamas-Führers Ismail Haniyeh eingeschränkt hatte. In ähnlicher Weise hatte die Regierung bereits Im Jahr 2017 Wikipedia im Land für drei Jahre gesperrt. Der Hintergrund: Inhalte, die Vorwürfe der Komplizenschaft zwischen der türkischen Regierung und dschihadistischen Organisationen in Syrien thematisierten. Auch Twitter war im März 2014 aufgrund von Tonaufnahmen, in denen Politiker in Korruptionsfälle verwickelt waren, gesperrt worden.

Fünf Journalisten getötet

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien kam es in der Türkei zudem zu fünf Morden and Journalisten: drei Syrer, die zuvor in die Türkei geflohen waren, sowie zwei Lokaljournalisten aus Bursa und Kocaeli. Dabei handelt es sich um einen Anstieg an Morden an Journalisten, war doch in den Jahren zuvor nur ein Journalist ermordet worden: Der türkisch-armenische Journalisten Hrant Dink, Gründer der zweisprachigen Wochenzeitung Agos, (im Jahr 2007).

Als Erdogan 2014 das Amt des Präsidenten übernahm, stand die Türkei auf der RSF-Weltrangliste der Pressefreiheit auf Platz 154 von 180 Ländern. Das Land kippte bis 2023 auf den 165. Platz und erreichte 2024 den 158.

Schlüsselzahlen aus den zehn Jahren an der Macht von Präsident Erdogan:
  • 5 Journalisten getötet
  • 131 Journalisten inhaftiert (für mehr als 48 Stunden), 40 davon verurteilt
  • Hunderte von Journalisten strafrechtlich verfolgt
  • 77 Journalisten wegen «Beleidigung des Präsidenten» verurteilt
  • 85% der nationalen Medien von den Machthabern kontrolliert
  • Instagram, Wikipedia, Twitter usw. gesperrt

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