«Appell vom 2. November»: Staatsanwältinnen und Staatsanwälte aus acht Ländern engagieren sich gegen die Straflosigkeit von Tätern, die Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten begehen

Wir, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen aus sehr unterschiedlichen Ländern, die jedoch alle Fälle von Morden an Journalisten erlebt haben

– sind alarmiert durch die anhaltende Straflosigkeit für Täterinnen und Täter, die Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten begangen haben, sowie über die äusserst prekäre Sicherheitslage für Medienschaffende weltweit

– sind sehr besorgt wegen der Auswirkungen der mangelnden Sicherheit von Medienschaffenden auf das Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf Information

Gemeinsam mit der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF), lancieren wir anlässlich des 2. Novembers, dem Internationalen Tag zur Beendigung der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalistinnen und Journalisten, einen Appell.

Wir sind bestürzt darüber, dass laut RSF seit 2010 weltweit mehr als 1’000 Medienschaffende ermordet wurden. Allein im Jahr 2022 wurden bereits 50 von ihnen wegen ihres Informationsauftrags oder bei der Ausübung ihres Berufs getötet.

Laut der UNESCO bleiben leider fast 90 Prozent der Verbrechen gegen Journalistinnen und Journalisten straflos. In Mexiko beispielsweise kommen die Täter in 88 Prozent der Journalisten-Morde ohne jede Strafe davon, und die Drahtzieher dieser Verbrechen werden so gut wie nie verurteilt. Auf den Philippinen sind die Hauptverantwortlichen für die Ermordung von 32 Journalisten im Jahr 2009 immer noch auf freiem Fuss. Die Drahtzieher der Morde an Norbert Zongo in Burkina Faso 1998, an Anna Politkowskaja in Russland 2006, an Gauri Lankesh in Indien 2017 und vielen anderen bleiben aufgrund einer schuldhaften Gleichgültigkeit oder gar Vertuschung seitens der Behörden weiterhin unbestraft.

Den Mord an einem Journalisten, einer Journalistin straflos zu lassen, bedeutet, das Verbrechen zu banalisieren, zu seiner Nachahmung anzustiften und die Gesamtheit der Medienschaffenden zu bedrohen. Einen Journalisten zu ermorden bedeutet, das Recht der Bevölkerung auf Information zu untergraben, die Fähigkeit der Bürger und Bürgerinnen, sich eine Meinung zu bilden und frei zu entscheiden, einzuschränken, und das Herz der Menschenrechte zu treffen.

Unabhängig von den Ländern oder Rechtssystemen haben Staatsanwältinnen und Staatsanwälte eine zentrale Rolle zu spielen, um dieser Situation ein Ende zu setzen. Die systematische und entschlossene Aktivierung der Strafverfolgung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung eines freien und sicheren Umfelds für Journalistinnen und Journalisten. Mord darf kein Berufsrisiko für Medienschaffende sein.

Aus diesen Gründen verpflichten wir uns feierlich, uns so weit zu mobilisieren, wie es die Situation erfordert. Insbesondere verpflichten wir uns, die «Leitlinien für Staatsanwälte in Fällen von Verbrechen gegen Journalisten» umzusetzen, die die Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeit von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten bei der Bekämpfung von Verbrechen gegen Journalisten unterstützen sollen. Sie wurden von der UNESCO und der Internationalen Vereinigung der Staatsanwälte unter Mitwirkung von Reporter ohne Grenzen ausgearbeitet.

So verpflichten sich die Unterzeichnenden, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ihrer Ermittlungen zu wahren, Druck aller Art zu widerstehen und jede Form von Absprachen öffentlich zurückzuweisen. Um zu ermöglichen, dass die Urheber von Verbrechen gegen Journalistinnen und Journalisten – direkte Täter wie Auftraggeber –, identifiziert und strafrechtlich verfolgt werden, verpflichten sie sich, «unparteiische, schnelle, gründliche, unabhängige und wirksame» Ermittlungen durchzuführen. Sie verpflichten sich ausserdem, die Verbindung zwischen dem Verbrechen und der journalistischen Tätigkeit des Opfers systematisch zu evaluieren und bei der Untersuchung von Verbrechen gegen Medienschaffende mit transnationaler Dimension so weit wie nötig mit ihren ausländischen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten.

Die Unterzeichnenden des Aufrufs stammen aus Brasilien, Mexiko, Gambia, der Demokratischen Republik Kongo, der Republik Kongo (Brazzaville), dem Vereinigten Königreich, der Slowakei und Serbien:

* Laura Borbolla, Staatsanwältin in Mexiko-Stadt, von 2012 bis 2015 Staatsanwältin der auf Verletzungen der Meinungsfreiheit spezialisierten Bundesstaatsanwaltschaft (FEADLE) in Mexiko.

* Raquel Dodge, von 2017 bis 2019 Generalstaatsanwältin in Brasilien. Sie hat sich durch ihre Arbeit gegen Korruption, organisierte Kriminalität und für die Menschenrechte hervorgetan.

* Matus Harkabus, Staatsanwalt bei der Sonderstaatsanwaltschaft der Slowakei, aktuell in der Abteilung für organisierte Kriminalität, Terrorismus und extremistische Verbrechen tätig. Er ist insbesondere für die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Ermordung des Journalisten Jan Kuciak im Jahr 2018 zuständig.

* Pascal Kake, Staatsanwalt am Gericht von Mahagi (Provinz Ituri) in der Demokratischen Republik Kongo, wo in den letzten zehn Jahren acht Journalisten ermordet wurden.

* Lord Ken Macdonald KC, von 2003 bis 2008 Direktor der Strafverfolgungsbehörde (Director of Public Prosecution, DPP) von England und Wales und Leiter des Crown Prosecution Service. Er ist derzeit Direktor des Wadham College in Oxford und Life Peer im House of Lords.

* Predrag Milovanović, Leitender Assistent des Generalstaatsanwalts bei der serbischen Staatsanwaltschaft. Er forderte und erreichte in erster Instanz die Verurteilung des Drahtziehers des Brandanschlags auf das Haus des Journalisten Milan Jovanovic im Jahr 2018.

* Charden Bédié Ngoto, Staatsanwalt in der Republik Kongo (Brazzaville), in Dolisie (Region Miari), der drittgrössten Stadt des Landes.

* Hussein Thomasi, Generalstaatsanwalt (Solicitor general) von Gambia. 2017 war er als Sonderberater des Justizministers massgeblich an der Einleitung der Strafverfolgung im Zusammenhang mit der Ermordung des RSF- und AFP-Korrespondenten Deyda Hydara im Jahr 2004 beteiligt.

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