Die Chefredakteurin von Abzas Media, Sevinj Vagifgizi, ist seit über einem Jahr in Aserbaidschan inhaftiert und ist dabei einem ungerechten und stark politisch gefärbten Prozess ausgesetzt. Reporter ohne Grenzen (RSF) verurteilt diese juristische Schikane unter dem falschen Vorwurf des «Schmuggels von Devisen» aufs schärfste und würdigt ihren Mut und ihr Engagement. Wir fordern die sofortige Freilassung von ihr und ihren Mitangeklagten.

Die junge Chefredakteurin, die den Druck des aserbaidschanischen Regimes gewöhnt ist, weigert sich, sich angesichts des wachsenden Drucks und der Ungerechtigkeit gegen sie zu beugen. Sevinj Vagifgizi erschien am 1. April erneut vor Gericht, zusammen mit fünf weiteren Mitarbeitenden des unabhängigen Medienunternehmens Abzas Media. «Unsere Moral ist gut», versichert sie RSF in einer Nachricht, die sie aus ihrer Frauenhaftanstalt übermittelt hat. Vagifgizi und ihre Kolleginnen und Kollegen werden alle des «Schmuggels von Devisen» beschuldigt. Der Gerichtsprozess wurde dabei offensichtlich dazu instrumentalisiert, sie zum Schweigen zu bringen.

Bei ihrer letzten Anhörung am 11. März zögerte Sevinj Vagifgizi nicht, den aserbaidschanischen Präsidenten vor Gericht als den direkten Verantwortlichen für ihre Inhaftierung zu bezeichnen: «Unsere Verhaftung zielte darauf ab, uns [vom Journalismus] fernzuhalten, weil wir die Korruptionsverbrechen von Ilham Aliyev und seinem Umfeld aufgedeckt haben.» Sie bestritt auch entschieden die Anschuldigungen, die gegen sie und ihre Kollegen erhoben werden. «In diesem Fall geht es nicht um Schmuggel, illegales Unternehmertum, Steuerhinterziehung oder Dokumentenfälschung. Es geht um Intoleranz gegenüber der Wahrheit», sagte die Journalistin selbstbewusst.

Der Prozess, der von zahlreichen Verfahrensverstössen gekennzeichnet ist, ist Teil einer gross angelegten Offensive gegen die unabhängige Presse in Aserbaidschan. Mit 35 Jahren stellt sich Sevinj Vagifgizi jedoch entschlossen und mit vollem Bewusstsein dem Prozess: Am 21. November 2023 beschliesst sie, von einer Reise nach Istanbul zurück nach Aserbaidschan zu kommen – , wohl wissend, dass sie verhaftet werden würde. Denn der Direktor von Abzas Media, Ulvi Hasanli, war am Vortag verhaftet worden.

Die Journalistin, die mittlerweile seit fast 500 Tagen inhaftiert ist, gibt nicht auf. «Wir haben uns bereits an die Bedingungen hier gewöhnt. Das Leben ist eintönig, so wie ausserhalb des Gefängnisses auch. Wir färben es ein wenig bunter, indem wir unsere Geburtstage feiern», vertraute sie RSF an. Von ihrer Zelle aus kämpft die Journalistin weiter – für sich, für ihre Kollegen und für eine freie Presse in ihrem Land.

«Sevinj Vagifgizi verkörpert die Würde, die Hoffnung und den Widerstand des unabhängigen Journalismus angesichts wachsender Unterdrückung. Indem sie sie in Haft halten, zeigen die aserbaidschanischen Behörden nur ihre Schwäche gegenüber des starken Motors einer freien Presse. RSF fordert ihre sofortige Freilassung sowie die der 24 anderen Medienschaffenden, die aufgrund ihrer Arbeit im Land inhaftiert sind.»

Jeanne Cavelier
Leiterin des Osteuropa- und Zentralasienbüros von RSF

Sevinj Vagifgizi ist widerstandsfähig und setzt ihre Beobachtungs- und Dokumentationsarbeit im Gefängnis fort. «Eigentlich ist es ein Ort, den wir schon immer mit eigenen Augen sehen wollten», sagt sie gegenüber RSF. «Als Journalistin war das aber unmöglich. Man musste hier leben, um zu verstehen, was dort passiert, die inhaftierten Personen treffen und konkret spüren, wie das System funktioniert.»

«Wenn sie Ungerechtigkeiten sah, konnte sie nicht schweigen.»

Sevinj Vagifgizi hat sich nicht zufällig für den Journalismus entschieden. Als Kind, das durch den ersten Krieg um Bergkarabach (1988-1994) vertrieben wurde, wuchs sie mit ihren beiden Schwestern in einer prekären Unterkunft in der Hauptstadt Baku auf. Ihre Eltern investierten alles in ihre Ausbildung. Schon in jungen Jahren ermutigte sie eine Lehrerin, Journalistin zu werden, weil sie «immer die Wahrheit sagt und für Gerechtigkeit kämpft». Ihre Mutter Ofelya sagt derweil gegenüber RSF: «Wenn sie Ungerechtigkeiten sah, konnte sie nicht schweigen. Der Journalismus wurde für sie schnell zu einer Möglichkeit, Menschen zu helfen.». Sevinj Vagifgizi begann entsprechend im Jahr 2006 ihr Journalismusstudium an der Universität Baku. Ab 2009 arbeitete sie für unabhängige Medien: Bizim Yol, Azadlıq und schliesslich für Meydan TV.

Sie geht dorthin, wo andere sich nicht trauen

Ihre Reportagen geben den Vergessenen, den Familien von an der Front gefallenen Soldaten und den Opfern von gebrochenen Versprechen eine Stimme. «Unbeirrt», so ihre Angehörigen, geht die Journalistin vor Ort, in entlegene Dörfer. Dorthin, wo andere sich nicht trauen. Sie untersucht Machtmissbrauch, einschliesslich der versteckten Vermögenswerte der Familie von Ilham Aliyev, Veruntreuungen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von Karabach sowie Interessenkonflikte von Einrichtungen wie der Heydar Aliyev Foundation oder der PASHA Holding – im Besitz der Familien des Präsidenten und seiner Frau, der Vizepräsidentin Mehriban Aliyeva. «Sevinj ist furchtlos, sie hat sich nie vor Druck gescheut», beschreibt sie Leyla Mustafayeva, heute stellvertretende Chefredakteurin von Abzas Media, aus ihrem Exil.

Als Folge ihrer Arbeit in einem autoritären Staat setzt sich Sevinj Vagifgizi auch energisch für die Pressefreiheit ein. Im Februar 2023 war sie eine der 40 Unterzeichner einer mutigen Erklärung gegen die Einschränkungen, die durch das neue Mediengesetz im Land drohten. Wenn sie nicht arbeitete, vertiefte sie sich in die Lektüre, insbesondere von Werken über das Presserecht in verschiedenen Ländern.

Ihr unermüdlicher Kampf für die Wahrheit, trotz des Drucks

Vagifgizis Engagement hat eine ständige Überwachung ihrer Bewegungen zur Folge. Von 2015 bis 2019 wurde der Journalistin die Ausreise verboten. Im Jahr 2020 wurde sie von der Polizei angegriffen, als sie über eine Demonstration berichtete. Sie wurde mehrfach verhaftet, bedroht, in ihrer Arbeit behindert und diffamiert. Nach ihrer Verhaftung am Flughafen Baku im November 2023 wurde ihr die Kommunikation mit der Aussenwelt für mehrere Wochen komplett untersagt. Darüber hinaus wurden ihre Konten und diejenigen ihrer Familie für sechs Monate gesperrt. Sie berichtet auch, dass sie gewaltsam gegen eine Wand gedrückt, in einer ungeheizten und überfluteten Zelle festgehalten und nicht versorgt wurde. Um gegen die fehlenden Ermittlungen zu den Beschwerden von Journalisten über Misshandlungen zu protestieren, weigerte sie sich zusammen mit einigen ihrer Mitangeklagten zweimal, vor Gericht zu erscheinen.

Trotz allem setzt Sevinj Vagifgizi ihren Kampf für die Wahrheit fort, auch hinter Gittern. Sie erklärt gegenüber RSF in einer Botschaft: «Vor meiner Verhaftung am Flughafen habe ich versprochen, dass die Korruptionsermittlungen fortgesetzt werden, auch wenn sie uns einen nach dem anderen verhaften. Meine Kollegen haben dieses Versprechen gehalten. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ausländische und aserbaidschanische Medienschaffende setzen diese Untersuchungen nun fort. Das bedeutet, dass unsere Verhaftung nichts geändert hat. Das gibt uns Hoffnung.»

Partagez cet article !