Eine Verhaftung und die Berichterstattung darüber gaben 2021 in Bern viel zu reden. Fast drei Jahre später ist sie wieder ein Thema – und das Berner Parlament beauftragt die Regierung, die Berichterstattung zu untersuchen. Der Vorwurf: Machtmissbrauch und Vorverurteilung. Das Vorgehen alarmiert RSF Schweiz. (Foto Keystone/Peter Schneider)
«Wir fragen uns schon, ob es die Aufgabe des Rats ist, so Einfluss zu nehmen aus dem Rathaus heraus auf die Medienarbeit», sagte Hanspeter Steiner als Vertreter der EVP an der Sitzung des Grossen Rats des Kantons Bern vom 5. März dieses Jahres. Diese Frage stellt sich tatsächlich anlässlich der Motion, die der Rat damals diskutierte. Die Motion forderte unter dem Titel «Machtmissbrauch durch Medien-Konzern: Kantonsangestellte schützen» den Regierungsrat auf, sich mit der Berichterstattung zu einem Fall aus dem Jahr 2021 zu befassen. «In einer beispiellosen, von «Der Bund» und «Berner Zeitung» lancierten Medienkampagne wurde ein Angehöriger der Kantonspolizei Bern vorverurteilt und zum Mörder abgestempelt, nachweislich wider besseren Wissens der Redaktion», schrieben die Motionär*innen Katharina Baumann (EDU), Andrea Gschwend-Pieren (SVP), Andreas Hegg (FDP) und André Roggli (Die Mitte).
Umstrittene Szenen bei einer Festnahme
Was war geschehen? Im Juni 2021 wurden Medienschaffende der Redaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» (BZ) zufällig Zeugen der Festnahme eines Mannes in der Stadt Bern, bei der es zu Gewalt kam. Der Mann wurde nach einem Gerangel von den Beamten der Kantonspolizei zu Boden gebracht, um ihn festzusetzen. Später wurde er unsanft in einen Polizeiwagen verbracht. Daraufhin erschien im «Bund» unter dem Titel «Verstörende Aktion der Berner Polizei» ein Artikel, in dem die Szenen, die die Beobachter*innen verfolgt hatten, beschrieben wurden. «Wir finden übereinstimmend, dass diese Verhaftung teilweise brutal abgelaufen ist», schrieben sie. Im Text kam auch die Polizei ausführlich zu Wort.
Die Medienschaffenden beschrieben im Artikel, dass ein Polizist sein Knie auf den Hals des Mannes gelegt habe. Die Sprecherin der Polizei wurde auch dazu zitiert: Die Fixierung mit dem Knie sei nicht auf dem Hals, sondern im Bereich der Schultern und/oder des Kopfes vorgesehen: «Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass das Knie bei aktiver Gegenwehr verrutscht», so die Sprecherin. Der Artikel verwies auch auf ein Statement eines Rechtsmediziners im Zusammenhang mit dem Tod des Afroamerikaner George Floyd durch Polizeigewalt.
Die Polizei veröffentlichte eine Medienmitteilung zum Fall. Und in der Folge erschienen sowohl im «Bund» wie in der BZ – die beiden Redaktionen arbeiteten damals noch getrennt und damit als Konkurrenten – weitere Artikel zu diesem Vorfall. Ein wichtiges Thema dabei: die Fixierung mit dem Knie. Es gab auch viele Online-Kommentare zum Fall, auch solche, in denen der Aktion der Polizei mit «Mord» in Verbindung gebracht wurde. Die Redaktionsleitungen von «Bund» und BZ entschuldigten sich später dafür und löschten diese Kommentare.
Die Staatsanwaltschaft eröffnete nach dem Vorfall eine Untersuchung wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch gegen zwei an der Verhaftungsaktion beteiligte Polizeibeamte. Danach wurde es ruhig um den Fall. Erst im September 2023 wurde er wieder ein Thema. Das Regionalgericht Bern-Mittelland verurteilte damals als erste Instanz den Beamten, der den Mann in den Polizeiwagen gestossen hatte, wegen Amtsmissbrauch und Tätlichkeit zu einer bedingten Geldstrafe. Der Beamte, der auf dem Verhafteten gekniet war, wurde freigesprochen.
Vorwurf: Berichterstattung «voreingenommen und unvollständig»
Nach dem Urteil äusserte sich Philippe Müller, Berner Regierungsrat und Vorsteher der Sicherheitsdirektion, in einem Statement sehr pointiert zur Berichterstattung von «Bund» und BZ unmittelbar nach dem Vorfall damals: Sie sei «voreingenommen und unvollständig» gewesen und habe damit eine öffentliche Vorverurteilung des Mitarbeitenden der Kantonspolizei in Kauf genommen. Die Redaktionsleitungen von «Bund» und BZ wiesen die Anschuldigungen Müllers daraufhin in einem Leitartikel zurück: Man habe «ausgewogen und so präzise und umfassend wie möglich» berichtet. Und man habe damals «sämtliches Bildmaterial zwecks Auswertung dem Sicherheitsdirektor» gezeigt und mit der Staatsanwaltschaft kooperiert.
Mitte Oktober 2023 wurde dann im Berner Grossen Rat die oben genannte Motion «Machtmissbrauch durch Medien-Konzern: Kantonsangestellte schützen» eingereicht. Die Motionär*innen schildern darin ihre Sicht der Dinge und kritisieren, die Berichterstattung von «Bund» und BZ habe «mehrfach und massiv den ethischen Grundlagen des Journalismus (Journalistenkodex)» widersprochen. Der Regierungsrat müsse seine Angestellten schützen, «auch und gerade gegen einen grossen Medienkonzern wie Tamedia, der im vorliegenden Fall seine Macht und politische Haltung zu Lasten eines einzelnen Kantonsangestellten und seiner Familie missbraucht hat».
Sie forderten deshalb unter anderem, dass der Regierungsrat aufkläre, «weshalb die Redaktion klärendes Bildmaterial bis heute nicht publiziert hat», und dass er die Herausgabe aller «zensurierten Bilder betreffend die diskutierte Fixierung seitens Fotografen oder Redaktion» verlange. Zudem solle der Regierungsrat «eine Beschwerde» einreichen und eine Schadensersatz- und Genugtuungsforderung klären, eine «klärenden Berichterstattung und Richtigstellung der Fakten» fordern und klären, «wie die Freischaltung von Online-Kommentaren, in denen jemand als «Mörder» vor-verurteilt wird, zu rechtfertigen ist».
Mehrheit unterstützt Motion
Bevor die Motion im Grossen Rat behandelt wurde, hatten Simon Bärtschi, Chefredaktor BZ und Chefredaktor Redaktion BZ/Der Bund/Thuner Tagblatt/Berner Oberländer, und «Bund»-Chefredaktorin Isabelle Jacobi allen Ratsmitgliedern eine ausführliche Stellungnahme zu den Vorwürfen zukommen lassen. EVP-Grossrat Hanspeter Steiner fand deshalb in der Debatte, es stehe bei «diversen Punkten Aussage gegen Aussage»; er lehnte die Motion ab. Doch eine Mehrheit unterstützte sie: Mit 75 Ja gegen 65 Nein bei 12 Enthaltungen überwies der Grosse Rat die Motion an den Regierungsrat.
«Die Redaktion nimmt diesen Schritt der Politik mit Verwunderung zur Kenntnis», reagierte Bärtschi auf Anfrage von RSF Schweiz auf dieses Resultat: «Der Berner Regierungsrat und das Parlament wollen offenbar auf die Berichterstattung Einfluss nehmen und uns einschüchtern.» Die Chefredaktion habe nach genauer Prüfung aller Fakten mehrfach und klar Stellung bezogen, der Vorwurf einer Vorverurteilung sei falsch: «Unsere Journalistinnen und Journalisten haben kein rechtliches Urteil gefällt und nie behauptet, die beiden Polizisten hätten sich strafbar gemacht. Vielmehr haben sie einen sachlichen Augenzeugenbericht abgeliefert, weil sie zufällig vor Ort waren. Das ist unser Job.»
Bärtschi befürwortet eine «vertiefte Prüfung» in diesem Fall, auch wenn er es «absurd» findet, «dafür das Parlament, die Regierung und die Verwaltung zu bemühen und Steuergelder zu verschwenden». Es gebe mit dem Presserat, den Gerichten und der Tamedia-Ombudsstelle bereits bewährte Institutionen für die Überprüfung der Berichterstattung. «Von unserer Seite liegt alles auf dem Tisch, wir kooperierten mit der Staatsanwaltschaft, der zuständige Regierungsrat konnte sämtliches Bildmaterial einsehen, der Fall endete vor Gericht mit einer erstinstanzlichen Verurteilung sowie einem Freispruch.»
Tatsächlich stellt sich die Frage, weshalb sich die Kritiker*innen der Berichterstattung nicht an den Presserat oder an die Justiz gewendet haben – das wären die klassischen Vorgehensweisen gewesen. Ausserdem erstaunt es, dass zwischen der Berichterstattung im Juni 2021 und der Einreichung der Motion im Oktober 2023 so viel Zeit verging.
Weshalb so spät – und weshalb nicht beim Presserat?
Was waren die Gründe dafür, dass die Motion erst mehr als zwei Jahre nach der Berichterstattung eingereicht wurde? «Der chronologische Ablauf der Geschehnisse hat uns dazu bewogen», so die Sprecherin der Motionär*innen, EDU-Grossrätin Katharina Baumann, auf Anfrage von RSF Schweiz. Die Berichterstattung sei «stets nur bruchstückhaft» den tatsächlichen Fakten nachgehinkt. Die «Bund»- und «Berner Zeitung»-Redaktion habe wesentliche Informationen und Fotos gegenüber der Öffentlichkeit zurückbehalten: «Wir haben dies erst nach dem Urteil im Herbst 2023 erfahren. Hätten «Bund» und «Berner Zeitung» diese Schlüsselinformationen nicht unterschlagen, hätten wir früher reagieren können.»
Haben die Motionär*innen auch ein anderes Vorgehen als einen politischen Vorstoss in Betracht gezogen, etwa, den Presserat oder die Justiz einzuschalten? Es hätten, so Baumann, Gespräche und Klärungsversuche auf bilateralem Weg stattgefunden, «unsere Anliegen und Bedenken wurden weder ernst- noch aufgenommen». Der Weg eines politischen Vorstosses sei wichtig gewesen: «Nur so konnte unserem Anliegen Nachdruck verliehen werden.» Der betroffene Polizist habe eine Familie mit Frau und Kindern, er sei in aller Öffentlichkeit als «Mörder» bezeichnet und aufgrund mangelhafter Verpixelung wiedererkannt worden. Dies sei weder korrekt noch professionell: «Auf Basis der Motion wurde die Faktenlage breit diskutiert. Der Gang zu Presserat, Justiz oder anderem liegt nun in der Verantwortung des Gesamt-Regierungsrates.»
Die Frage, weshalb nicht der Presserat oder die Justiz eingeschaltet wurde, hat RSF Schweiz auch an Philippe Müller, Berner Regierungsrat und Vorsteher der Sicherheitsdirektion, gestellt. «Sicherheitsdirektor Philippe Müller schätzte die Situation vor zwei Jahren so ein, dass aufgrund der damaligen, aus seiner Sicht einseitigen medialen Berichterstattung eine Beschwerde an den Presserat von den Medien oder der Öffentlichkeit als Beeinflussung des laufenden Strafverfahrens gegen die Mitarbeitenden der Kantonspolizei dargestellt worden wäre. Die Medien wären kaum auf die inhaltlichen Argumente des Sicherheitsdirektors eingegangen», schreibt Reto Wüthrich, Leiter Kommunikation Kanton Bern und Kommunikationsbeauftragter des Regierungsrates, auf die Anfrage. Deshalb habe Müller damals vorläufig auf weitere Massnahmen verzichtet und bewusst den Gerichtsentscheid abgewartet.
Philippe Müller wird sich mit seiner Regierungsrats-Kolleginnen und -kollegen nun um die Umsetzung der Motion kümmern müssen. Wer soll die Aufträge ausführen, die verlangten Untersuchungen anstellen? Und wann ist mit Ergebnissen zu rechnen? Wie wird der Regierungsrat mit der Forderung, dass «alle zensurierten Bilder» herausgegeben würden, umgehen – dieser Forderung steht ja der Quellenschutz entgegen? Noch ist offenbar gar nichts klar: «Der Regierungsrat hat die Überweisung der Motion zur Kenntnis genommen und wird das weitere Vorgehen zu gegebener Zeit diskutieren», so die Antwort des Kommunikationsbeauftragten des Regierungsrates, Reto Wüthrich.
«Es ist Sache der Justiz oder der berufsethischen Instanz der Schweizer Journalisten, dem Presserat, festzustellen, ob die Berichterstattung über ein Ereignis gesetzeskonform war beziehungsweis ob sie den Berufsregeln entsprach», kommentiert Denis Masmejan, der Generalsekretär von RSF Schweiz, den Fall. Es sei nicht richtig, dass die Politik diese Instanzen ersetzen wolle. Was für Masmejan vor allem beunruhigend ist, ist die Tatsache, dass der Grosse Rat eine Forderung an die Regierung richtet, die offensichtlich gegen den Quellenschutz verstösst: «Nur die Justiz hat unter streng geregelten Bedingungen die Macht, eine Redaktion zu zwingen, Informationen oder Bilder, die sie besitzt, auszuhändigen. RSF Schweiz fordert den Berner Regierungsrat auf, die Gewaltenteilung zu respektieren.»