Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter über Folter (UN Photo / Jean-Marc Ferré), hat Julian Assange im Gefängnis besucht und ein Buch über den Fall Assange geschrieben. Im Interview erklärt er die Gründe dafür, die Konsequenzen des Falls für die Pressefreiheit und weshalb wir uns auch in der Schweiz Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit machen sollten. RSF hat sich gegen die Auslieferung des Wikileaks-Gründers eingesetzt. 

– RSF Schweiz: Was ist der aktuelle Stand im Fall Julian Assange?

– Nils Melzer: Im Moment läuft das Berufungsverfahren. Es ist ja ein Auslieferungsgesuch der USA hängig, mit 18 Anklagepunkten, darunter Spionage und Verschwörung. Assange ist seit bald zwei Jahren in rein präventiver Auslieferungshaft. Die Strafe wegen der Kautionsverletzung, die er begangen hat, als er in der ecuadorianischen Botschaft im Asyl war, hat er abgesessen. Im Januar hat die erste Instanz über die Auslieferung entschieden. Die Richterin lehnte sie aus gesundheitlichen Gründen ab. Denn Assange ist in einem psychischen Zustand, der in Verbindung mit den extrem unmenschlichen Haftbedingungen in den USA mit grosser Sicherheit zu einem Selbstmord führen würde.

– Das Urteil ist positiv für Assange. 

– Es sieht zwar aus wie ein Sieg für Assange, ist aber sehr gefährlich. Denn die Richterin hat in allen anderen Punkten den USA Recht gegeben. Sie hat unter anderem nicht gelten lassen, dass Assange in den USA kein faires Verfahren zu erwarten hat. Sie hat die Einwände, es handle sich um ein politisches Delikt und die WikiLeaks-Veröffentlichungen seien durch die Pressefreiheit geschützt, nicht gelten lassen. Genauso wie den Einwand, es habe ein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung der Dokumente bestanden, weil sie Kriegsverbrechen bewiesen haben.

Die Richterin hat so einen Präzedenzfall geschaffen, den man jetzt auf alle Journalisten anwenden kann und der als Abschreckung dient: Wer heute geheime Informationen der USA oder Grossbritanniens veröffentlicht, kann nicht mehr sagen, es bestehe ein öffentliches Interesse daran, es handle sich um ein politisches Delikt oder das Vorgehen sei durch die Pressefreiheit geschützt.

– Was bedeutet das Urteil für das Verfahren gegen Assange?

– Warum hat sich die Richterin nicht für eine Auslieferung entschieden? Es ist die erstinstanzliche Entscheidung, und deshalb ist klar, dass eine der Parteien sowieso in Berufung geht. Diese Partei definiert, was sie vor die Berufungsinstanz bringt. Hätte die Richterin auf Auslieferung entschieden, hätten Assanges Anwälte Berufung eingereicht und alle Einwände gebracht: Pressefreiheit, politisches Delikt, Verfahrensgarantien und so weiter. Das alles wäre vom High Court beurteilt worden, der unabhängiger urteilt als die erste Instanz.

Mit dem jetzigen Urteil aber konnte man davon ausgehen, dass Assange keine Berufung einlegt und diese Punkte kein Thema mehr sind. Die USA als Berufungspartei legt dem High Court nur die Fragen nach Assanges Gesundheitszustand und danach, ob die zu erwartenden Haftbedingungen in den USA menschlich sind, vor. Geben die USA dann Garantien ab, dass sie ihn gut behandeln werden, ist der einzige Punkt, der gegen eine Auslieferung spricht, neutralisiert.

Eine Möglichkeit gibt es noch: Assange könnte eine sogenannte Gegenberufung einlegen und so gewisse Punkte vorbringen. Das Gericht hat aber noch nicht entschieden, ob das möglich ist.

– Gibt es eine Chance, dass die USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden die Berufung zurückziehen?

– Ich wüsste nicht, warum. Joe Biden war acht Jahre lang der Vizepräsident von Barack Obama. Und Obama ist derjenige Präsident in der Geschichte der USA, der am aggressivsten gegen Whistleblower vorging. Er hat mehr Whistleblower verfolgt als alle anderen US-Präsidenten zusammengenommen. Am Ende seiner Amtszeit hat er zwar Chelsea Manning, also Assanges Quelle, begnadigt. Aber nicht Assange. Formell war Assange natürlich gar nicht angeklagt, aber die Anklage gegen ihn wurde bereits seit 2010 im Geheimen vorbereitet. Obama hatte überhaupt kein Interesse, dass Assange freigelassen wird. Dasselbe gilt für Biden.

– Sie haben ein Buch über den Fall Assange geschrieben – warum ist Ihnen der Fall so wichtig?

– Ursprünglich wollte ich mich gar nicht auf den Fall einlassen. Der öffentliche Ruf Assanges hat dabei eine Rolle gespielt. Als Assanges Anwälte zum zweiten Mal bei mir intervenierten, habe ich mich widerstrebend darauf eingelassen. Sie haben mir einige Schlüsseldokumente übergeben, anhand derer ich festgestellt habe, dass hier etwas nicht stimmt. Gleichzeitig habe ich gemerkt, wie blind ich selber vorher war. Nach wie vor glauben ja fast alle, Assange sei ein Schmierfink, Vergewaltiger und Hacker – aber niemand befasst sich mit den Beweisen. Wie ist es möglich, die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt so gegen einen Mann aufzubringen? Assange ist mit Beweisen für Kriegsverbrechen der Mächtigen an die Öffentlichkeit getreten. Das ist Faktum. Alles andere wurde nachher konstruiert und extrem dominant in die Öffentlichkeit gepresst. Ich finde es unglaublich beängstigend, dass unsere Wirklichkeitswahrnehmung derart dominiert ist.

– Sie haben die Vorgänge minutiös untersucht, das ist in Ihrem Buch nachzulesen. Was haben Sie festgestellt?

– Ich habe jeden Vorwurf gegen ihn genau überprüft. Man hat ihm Vergewaltigung, Hacking und Lebensgefährdung vorgeworfen, aber ohne jeden Beweis. Hingegen ist erwiesen, dass Beweismittel manipuliert und seine Rechte systematisch verletzt wurden und immer noch werden. Ich sage nicht, Assange sei ein Engel. Er ist ein normaler Mensch, der seine Charakterfehler hat. Aber es gibt keine Beweise dafür, dass er ein Verbrechen begangen hat.

– Als UNO-Sonderberichterstatter über Folter waren Sie im Gefängnis bei Assange.

– Ich konnte Assange gemeinsam mit zwei spezialisierten Ärzten im Gefängnis besuchen und wir kamen zu einem ganz klaren Ergebnis: Er zeigt alle Symptome von psychischer Folter. Er wurde von Schweden, Grossbritannien, Ecuador und den USA mit Justizwillkür, Überwachungsmassnahmen, Demütigungen und Drohungen gezielt unter Druck gesetzt. Das hat zu extremen Stress- und Angst­zuständen, schweren Depressionen und neurologischen und kognitiven Folgeschäden geführt.

Wenn ein UNO-Sonderberichterstatter klare Hinweise auf Folter findet, muss es zwingend eine Untersuchung geben, das Folteropfer muss entschädigt und die Missbräuche müssen geklärt und korrigiert werden. Ich habe mich an das Protokoll gehalten. Aber die beteiligten Staaten – Schweden, Grossbritannien, Ecuador und die USA – haben sich dem Verfahren total verweigert. Ich habe gedacht: Das kann doch nicht wahr sein! Ich hatte es nicht mit Iran, Syrien oder Afghanistan zu tun, sondern mit Schweden, mit Grossbritannien. Und es geht um Pressefreiheit, um Folter, um politische Verfolgung. Ich habe mich deshalb entschieden, alles auf den Tisch zu bringen. Auch, um die Blindheit der westlichen Demokratien gegenüber dem eigenen Fehlverhalten aufzuzeigen.-

– Was meinen Sie damit?

– Es geht um ein Versagen des Systems. Alle involvierten Staaten hatten denselben Reflex: Dieser Mann muss stillgelegt werden. Denn er und seine Organisation haben einen zentralen Nerv getroffen. Whistleblower konnten via Internet anonym Beweise an WikiLeaks übermitteln, diese wurden geprüft und veröffentlicht. Damit haben sie Transparenz hergestellt.

Weshalb hatten die Staaten solche Angst vor den Veröffentlichungen? Weil dabei so viel Dreck an die Oberfläche kam. Es gibt eine Parallelwelt der Geheimdienste. Bereits während des kalten Kriegs und besonders seit 9/11 haben sie hinter den Kulissen immer sehr eng und in einer Art rechtsfreien Raum zusammengearbeitet. WikiLeaks hat dieses Geheimhaltungsbusiness fundamental gefährdet.

– Das heisst, es wurde ein Exempel statuiert.

– Ja. Man darf die Geheimhaltung der Staaten nicht in Frage stellen. Mit dem Urteil von Januar sind die rechtlichen Pflöcke eingeschlagen worden: Die Verletzung von staatlichen Geheimnissen ist ein Verbrechen, sogar öffentliches Interesse ist keine Rechtfertigung dafür, und die Regierung entscheidet, ob die Beweise für ihre eigenen Missbräuche geheim sind oder nicht.

– Es gibt Leute, die fragen, was der Fall Assange mit Pressefreiheit zu tun hat – schliesslich sei Assange kein Journalist.

– Erstens ist die Pressefreiheit nur eine Unterkategorie der Meinungsäusserungsfreiheit, die das Recht beinhaltet, Informationen zu empfangen, zu teilen und auch zu veröffentlichen. Man muss dabei auf die Rechte anderer und auch auf die nationale Sicherheit Rücksicht nehmen, und es muss ein öffentliches Interesse an den Informationen bestehen. Das gilt für alle, nicht nur für Journalisten.

Natürlich können wir die Diskussion führen, ob Assange ein Journalist sei oder nicht. Aber es geht um die gesellschaftspolitische Funktion der Presse. Sie ist die vierte Macht im Staat. Ihre Aufgabe ist es, die anderen drei Gewalten Justiz, Legislative und Exekutive zu überwachen und allfälliges Missverhalten offenzulegen, damit nachher die demokratische Gesellschaft die verantwortlichen Politiker zur Verantwortung ziehen kann. Wer diese Überwachungsfunktion übernimmt, ist ein Journalist. Gerade denjenigen Journalisten, die Assange kritisieren und finden, er sei im Gegensatz zu ihnen kein «richtiger» Journalist, würde ich sagen: Es wahrscheinlich eher umgekehrt.

– Sie kritisieren ja in Ihrem Buch, die Medien hätten ihre Aufgabe nicht wahrgenommen.

– Ein Grossteil der etablierten Presse ist bequem geworden, hat gute Kontakte zu Regierung und Wirtschaft, vielleicht sogar zu gute Kontakte. Dann beginnt die Kollusion: Man überwacht sich nicht mehr gegenseitig, man ist nicht mehr unabhängig. So ist ein Freiraum entstanden, den die etablierte Presse nicht mehr ausfüllt. Hätte sie all die Kriegsverbrechen aufgedeckt, hätte es Assange gar nicht gebraucht.

Chelsea Manning hat ihre Informationen zuerst der Washington Post und der New York Times angeboten und sich erst, nachdem diese abgelehnt hatten, an WikiLeaks gewandt. Die New York Times hat vor 50 Jahren die Pentagon-Papers veröffentlicht und die Rolle als vierte Gewalt übernommen. Heute hingegen hat sie zugegeben, dass sie Artikel, die mit der nationalen Sicherheit zu tun haben, zuerst der Regierung vorlegt. Das ist doch unglaublich. Es hat natürlich mit 9/11 zu tun: Man ist nach dem Motto «Wir müssen nun alle gemeinsam gegen den Terrorismus kämpfen» zusammengerückt. Ich verstehe die Motivation, aber es hat dazu geführt, dass die Presse die Regierung nicht mehr richtig überwacht.

– Haben Sie den Eindruck, es sei weltweit so, dass die Medien ihre Regierungen nicht mehr überwachen?

– Zum Teil stellt die Presse die wichtigen Fragen überhaupt nicht, oder sie stellt sie, gibt sich aber mit Antworten zufrieden, die die Fragen eigentlich nicht beantworten. Das war in der Schweiz bei der Abstimmung über das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) der Fall. Die Presse hat nicht nachgehakt, wenn die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Suter in Interviews gesagt hat, die Definition von Terrorismus sei beim PMT dieselbe wie beim Nachrichtendienstgesetz. Obwohl das offensichtlich nicht wahrheitsgetreu ist.

Oder nehmen wir die Crypto-Affäre. Der Nachrichtendienst hat zusammen mit der CIA und dem deutschen Bundesnachrichtendienst mit manipulierten Chiffriergeräten über hundert Staaten ausspioniert. Der Bundesrat sagt, er habe nichts davon gewusst. Da müsste es doch einen Aufschrei geben: Der Bundesrat weiss nicht, was der Nachrichtendienst tut! Das Parlament lässt dann die Sache untersuchen und stellt keine strafbaren Handlungen fest. Die Behördenmitglieder decken sich gegenseitig. Das ist ein Skandal, aber es wird von den Medien nicht als Skandal an die Öffentlichkeit getragen.

Auch in diesem Fall haben wichtige rechtsstaatliche Institutionen nicht funktioniert, dennoch wird es nicht als eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit wahrgenommen. Wir machen uns keine Sorgen, weil wir an den Schweizer Rechtsstaat glauben. Aber wenn die Behörden nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden und das auch akzeptiert wird, wird es gefährlich.

– Sie haben sich im Fall Assange mit Ihrem Buch öffentlich engagiert. Müssen Sie mit Konsequenzen rechnen?

– Für mich war es klar: Wenn ich mich in diesem Fall einsetze, dann ist wahrscheinlich zumindest meine UNO-Karriere zu Ende. Ich habe keine direkten Drohungen erhalten. Man hat mir jedoch in diplomatischen Kreisen klar zu verstehen gegeben, das sei ein Fehler gewesen, und es gebe einen politischen Preis dafür.

Nils Melzer ist seit November 2016 UNO-Sonderberichterstatter über Folter. Melzer studierte an der Universität Zürich Rechtswissenschaften und lehrt heute Völkerrecht an der University of Glasgow und an der Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte in Genf. Vor seinem Mandat als Sonderberichterstatter arbeitete er zwölf Jahre lang beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) als Delegierter und Rechtsberater. Sein Buch – «Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung» – erschien im April dieses Jahres in deutscher Sprache beim Piper Verlag. In den kommenden Monaten wird es auch in englischer und schwedischer Übersetzung erscheinen.

 Das Interview mit Nils Melzer führte Bettina Büsser am 20. Juli 2021

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