Editorial

In weniger als zwei Monaten Kampfhandlungen hat der Krieg in der Ukraine bereits sieben Journalisten das Leben gekostet. Das ist enorm. Im gesamten Jahr 2012, dem Jahr mit den meisten Todesopfern unter den professionellen Medienschaffenden in Syrien, hatten 17 von ihnen ihr Leben verloren. Die Bedingungen sind zwar nicht wirklich vergleichbar, die Zahlen auch nicht, aber die ersten Wochen des Ukraine-Konflikts erwiesen sich als extrem gefährlich für Reporter.

Und es gibt nicht nur die Getöteten. Reporter ohne Grenzen liegt die schreckenerregende Aussage eines ukrainischen «Fixers» im Dienst von Radio France vor, der mehrere Tage lang von russischen Truppen festgehalten und gefoltert wurde, bevor er wieder freigelassen wurde. Andere hatten einfach nur Glück. Der Genfer Fotoreporter Guillaume Briquet wurde nur leicht verletzt, als sein Fahrzeug, das mit «Press»-Markierungen versehen war, am 6. März in der Nähe von Mikolajiw im Süden der Ukraine von russischen Schützen beschossen wurde. Unsere Organisation erinnert daran, dass es ein Kriegsverbrechen darstellt, wenn ein professionellen Medienschaffenden in seiner Funktion ins Visier genommen wird; sie hat dem Internationalen Strafgerichtshof bereits mehrere Fälle dieser Art gemeldet.

Auch russische Medienschaffende zahlen den Preis für diesen Krieg. Oksana Baoulina wurde am 23. März durch einen Drohnenangriff in Kiew getötet, als sie für ihr Medium, die investigative Online-Website The Insider, berichtete. Diejenigen, die in Russland geblieben sind, werden durch Zensur, Einschüchterung, Drohungen und Repression daran gehindert, ihren Beruf auszuüben. Wir fordern, dass die westlichen Länder, insbesondere die Schweiz, sie und ihre ukrainischen Kollegen ungehindert aufnehmen, damit sie weiterhin informieren können.

In diesem Krieg – wie auch in anderen Kriegen – sehen sich Journalistinnen und Journalisten mit einigen der grundlegendsten Fragen ihres Berufs konfrontiert. Welche Risiken müssen sie eingehen, um die Öffentlichkeit zu informieren? Wie weit muss man bei der Darstellung des Schreckens gehen, um Verständnis zu wecken? Noch grundlegender ist die Frage, wie man die Wahrheit erkennen kann, wenn die Realitäten vor Ort und die militärischen Operationen, die Kontrolle der Informationen durch die Kriegsparteien, Propaganda und Zensur die Suche nach Fakten behindern.

Auf diese Fragen gab die französische Kriegsreporterin Martine Laroche-Joubert am Dienstag, den 5. April, bei Radio RTS La Première eine wunderbare Antwort. Als Gast der Sendung La Matinale erinnerte sie, die 1992 als erste Journalistin das belagerte und bombardierte Sarajevo betreten hatte, mit Nachdruck an die Grundsätze, die ihrer Meinung nach Journalistinnen und Journalisten leiten sollten, die die Verantwortung tragen, über das Schreckliche – oft Unerträgliche  – zu berichten: so nah wie möglich an die Wahrheit herankommen, unaufhörlich nach ihr suchen, noch mehr überprüfen, sich nicht von Emotionen überwältigen lassen.

Die Journalistin Maurine Mercier, die in der Ukraine aussergewöhnliche Reportagen für RTS realisiert hat, sagt nichts anderes. Sie hat die Aussage einer Frau dokumentiert, die in Butscha zweieinhalb Wochen lang jeden Tag von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Im Podcast Le Point J. von RTS fragte sie: «Ist es unsere Aufgabe, Emotionen hinzuzufügen, wo es bereits zu viele gibt? Unsere Rolle ist es, zu vermitteln. Von dieser Regel sollten wir nie abweichen», und fügte hinzu, dass man in einem Krieg «beide Seiten abdecken» müsse.

Angesichts der in der Ukraine begangenen Verbrechen, deren Abscheulichkeit sich Tag für Tag zeigt, ist es weder einfach, diese Regeln anzunehmen noch sie umzusetzen.

Die Verifizierung von Fakten, der Abgleich von Quellen, die Zuverlässigkeit von Informationen und die Unabhängigkeit derjenigen, die sie sammeln, sind jedoch kategorische Imperative für den Journalismus, ohne die es nicht geht.

Alles weist darauf hin, dass für die Öffentlichkeit die Rolle des vertrauenswürdigen Dritten heute noch mehr als früher der wichtigste Wert des Journalismus ist. Der jüngste Bericht des Reuters Institute for the Study of Journalism ist aufschlussreich: Im Jahr 2021, in einem ganz anderen Kontext, nämlich dem der Gesundheitskrise, ist die Nachfrage der Öffentlichkeit nach zuverlässigen, relevanten und unabhängigen Informationen stark gestiegen. Ohne hier die Debatte über das Vertrauen in die Medien zu eröffnen, wollen wir nur feststellen, dass im Zeitalter der sozialen Netzwerke die Hauptaufgabe der Journalistinnen und Journalisten – «Sie halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren», um aus dem Ethikkodex der Schweizer Journalistinnen und Journalisten zu zitieren – nur umso stärker und notwendiger ist. Wir werden uns auch weiterhin für diejenigen einsetzen, die ihre ganze Energie in diese Arbeit investieren.

Denis Masmejan, Generalsekretär RSF Schweiz

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