Sabrina Pisu hofft, dass es dieses Mal vorbei ist. Die italienische Journalistin lebt in Genf, wo sie als Korrespondentin u.a. für die italienische Zeitung L’Espresso tätig ist. Sie musste zwei Jahre lang hart gegen eine Strafanzeige kämpfen, welche vom Genfer Erziehungsdepartement wegen eines Artikels von ihr eingereicht worden war. Anfang September dieses Jahres, fast zwei Jahre nach dem Vorfall, scheint das Genfer Beschwerdegericht nun endlich einen Schlusspunkt gesetzt zu haben. Es bestätigte die Einstellung der Klage, welche bereits im Jahr zuvor von der Genfer Staatsanwaltschaft beschlossen worden war. Dennoch besteht zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen für den Kanton Genf noch immer eine theoretische Möglichkeit, das Bundesgericht anzurufen.
Die Sache begann im Oktober 2022 mit einem Bericht, den Sabrina Pisu für die bekannte und preisgekrönte italienische Wochenzeitung L’Espresso schrieb. Der Artikel basierte auf Aussagen von Eltern von einigen Kindern, die unter anderem inder Sonderpädagogischen Einrichtung (ECPS) Dupuy in Goms betreut wurden. Die ECPS gehört zum Office médico-pédagogique, welches dem Erziehungsdepartement unterstellt ist. Im Artikel von Pisu wurden Misshandlungen von verhaltensauffälligen Kindern im Heim von Mancy aufgedeckt. Ein Thema, das nach der Publikation mit höchster Vorsicht behandelt wurde – obwohl die Informationen, die die Journalistin sammelte, offensichtlich von allgemeinem Interesse waren.
Die Beziehungen von Sabrina Pisu zu Pierre-Antoine Preti, dem Kommunikationsbeauftragten der damaligen Staatsrätin für öffentliche Bildung, Anne Emery-Torracinta, waren von Anfang an angespannt. Pisu gelang es dennoch im Zuge ihrer Recherche, einen Termin mit der Departementsvorsteherin in naher Zukunft zu vereinbaren.
Vermeintlicher Hausfriedensbruch führte zu Strafanzeige
In der Zwischenzeit begleitete Pisu die in Goms betreuten Kinder. Sie hatte einen Termin mit der Mutter eines Kindes und traf diese, als diese ihren Sohn nach der Schule abholte. Die Mutter hatte die Schule vorab darüber informiert, dass sie von einer Journalistin und einem Fotografen begleitet werden sollte. Dieser machte denn auch Bilder sowie Drohnenaufnahmen der Situation.
Für das Erziehungsdepartement war das offenbar zu viel. Der Termin Pisus mit der Departementsvorsteherin wurde kurzerhand abgesagt. Darüber hinaus wurde eine Strafanzeige gegen Pisu eingereicht – wegen Hausfriedensbruch sowie wegen Verstoss gegen das Verbot des Überfliegens öffentlicher Gebäude mit Drohnen. Letzteres ist in den eidgenössischen und kantonalen Vorschriften über den Luftraum vorgeschrieben.
In der Anzeige redet das Ministerium von einer angeblichen «Panik», die der Besuch der Journalistin und des Fotografen bei einigen Kindern der Einrichtung ausgelöst haben soll. Entsprechend wurde eine strafrechtliche Untersuchung gegen Pisu und ihren Kollegen eingeleitet. Die beiden mussten sich zuerst vor der Polizei, danach vor der Staatsanwaltschaft erklären.
Journalistin mit viel Erfahrung und der nötigen Vorsicht
Sabrina Pisu ist eine erfahrene Journalistin und hat zahlreiche preisgekrönte Untersuchungen über die Mafia und die Korruption in Italien durchgeführt. Sie wusste, dass im vorliegenden Fall unter keinen Umständen Fotos oder Informationen über andere Kinder oder deren Eltern hätten gezeigt werden dürfen. Entsprechend hatte sie ausreichend vorgesorgt und sichergestellt, dass es gar nicht erst so weit kommt. Mehrere Zeugenaussagen, die die Polizei von Mitarbeitern der Einrichtung erhalten hat, deuten in diese Richtung.
Die beiden Angeklagten mussten schliesslich bis zum Frühjahr 2024 warten, bis sie aus dem Verfahren entlassen wurden. Die Staatsanwaltschaft stellte den Fall mit folgendem Argument ein: Ein Schulhof sei kein geschlossener Raum im Sinne des Artikels des Strafgesetzbuches, darum liege auch kein Hausfriedensbruch vor. Und weder die Schule noch das Erziehungsdepartement hätten Pisu vorgängig mitgeteilt, dass sie nicht berechtigt sei, das Areal zu betreten.
Was das Luftfahrtrecht betrifft, so ist es zwar richtig, dass das Überfliegen eines öffentlichen Gebäudes mit einer Drohne verboten ist. Doch dem Fotografen hätte höchstens ein fahrlässiger Verstoss vorgeworfen werden können. Das Luftfahrtrecht stellt hingegen nur einen vorsätzlichen Verstoss unter Strafe.
Das News-Portal Heidi.News deckte den Fall im Sommer auf. RSF Schweiz zeigte sich im Artikel «alarmiert über die inakzeptablen Angriffe auf die Informationsfreiheit, denen die Autoren dieses Artikels zum Opfer gefallen sind.» Das öffentliche Interesse an der Untersuchung scheint zudem unbestritten zu sein.
Das Erziehungsdepartement hatte in der Affäre allerdings noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es rief das oberste Gericht des Kantons Genf, den Cour de Justice, an und forderte dieses auf, die Einstellung des Verfahrens aufzuheben. Zudem sollte das Gericht die Staatsanwaltschaft zwingen, die Journalistin und den Fotografen zu verfolgen und zu verurteilen.
Keine stichhaltigen Argumente der Behörden
Die Behörden schienen davon überzeugt zu sein, dass es sich hier um eine Grundsatzangelegenheit handelte. In diesem Sinne schienen sie auch ihre Klage zu verfassen. Sie zögerten nicht, sich auf den berühmten Fall eines Journalisten zu berufen, welcher in Deutschland mit einem Butterfly-Messer an Bord eines Flugzeuges gestiegen war, um die Sicherheit von Flughägen zu testen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 2016 über den Fall entschieden und die Verurteilung des Journalisten für rechtmässig befunden («Verurteilung eines Journalisten wegen Mitführens einer Waffe an Bord eines Flugzeugs»).
Diese Argumente konnten die Genfer Regierung nicht überzeugen. Ein Urteil der Beschwerdekammer für Strafsachen vom 3. September 2024 bestätigte die Einstellung des Falles. Das Erziehungsdepartement und die ihm zugewiesenen Einrichtungen seien nicht berechtigt, sich in ihrer Beschwerde auf eine Verletzung der kantonalen und eidgenössischen Gesetzgebung über den Luftraum zu berufen. Der Hauptzweck dieser Gesetzgebung sei es, so das Urteil, den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Die kantonalen Behörden, die im vorliegenden Fall für die öffentliche Erziehung zuständig seien, hätten in diesem Bereich offensichtlich keine Vorrechte. Vielmehr sei die Staatsanwaltschaft die alleinige Entscheidungsinstanz über allfällige strafrechtliche Verfolgungen.
In Bezug auf den zweiten Punkt des Falles – den Hausfriedensbruch – stellten die Richter ebenfalls in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft fest, dass der Schulhof aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Ortes kein geschlossener Raum im Sinne des Strafgesetzbuches sei. Niemand habe der Journalistin und dem Fotografen mitgeteilt, dass sie keine Erlaubnis hätten, den Schulhof zu betreten. Es könne darum nicht davon ausgegangen werden, dass die beiden unrechtmässig in privates Gelände eingedrungen seien. Dies zu behaupten, würde vielmehr bedeuten, dass es Dritten verboten wäre, die Eltern eines Kindes zum Schulhof zu begleiten.
Pisu befürchtet, dass die Klage andere Journalisten einschüchtert
«Die letzten zwei Jahre waren für mich schwierig», sagt Sabrina Pisu. «DieseStrafanzeige führte zu zwei langwierigen Vernehmungen.» Im Januar 2023 durch die Polizei und im September durch die Staatsanwaltschaft für eine Anhörung zur Konfrontation und Zeugenvernehmung. Während dieser Anhörungen habe eine Erzieherin sogar bestätigt, dass die sonderpädagogische Einrichtung DupuySchauplatz von Gewalt zwischen Kindern gewesen sei, über die sich eine Mutter in ihrem Artikel beschwert hatte, sagt Pisu. «Ich kann mir kaum einen anderen Zweck dieser Klage vorstellen als den, mich zum Schweigen zu bringen.» Und, was noch schlimmer sei: «Die schwächsten Kinder, deren Rechte verletzt wurden, sollten damit ebenfalls zum Schweigen gebracht werden.»
Es handele sich um ein ungerechtes und strafendes Verfahren, sagt die Journalistin. «Ist das der Preis, den wir zahlen müssen, um unsere Arbeit als unabhängige Journalisten zu tun? Meine Sorge ist, dass die Klage gegen mich andere Journalisten einschüchtern wird und dazu beiträgt, die Sonderschulen vom Radar der Öffentlichkeit zu nehmen. Das würde diese Kinder völlig unsichtbar machen.»
Auf Anfrage von RSF Schweiz teilt das Erziehungsdepartement durch seine Kommunikationsbeauftragte Constance Chaix lediglich mit: «Das Departement kommentiert keine Gerichtsurteile und äussert sich nicht zu Einzelfällen.»