Seit der Machtübernahme durch die Taliban im August haben unzählige afghanische Journalistinnen und Journalisten das Land verlassen oder versuchen verzweifelt zu flüchten. «Sie werden terrorisiert», sagt Roberto Antonini, Journalist bei der Radiotelevizione svizzera (RSI), der Afghanistan seit vielen Jahren kennt.

Im Juli war Antonini noch in Kabul. Zusammen mit dem Regisseur Philippe Blanc drehte er die bewegende Reportage «Kabul, kurz vor den Dunkelheit», die auf allen SRG-Sendern zu sehen war. Die beiden trafen viele Journalisten, Fotografen und Kameraleute, die noch immer von den beiden Anschlägen traumatisiert sind, bei denen im Sommer 2019 acht Medienschaffende ums Leben kamen.

Bei ihrer Reportage waren die beiden Schweizer Journalisten auch mit Kolleginnen und Kollegen von Tolonews in Kontakt. Tolonews ist – beziehungsweise war zumindest bis zu diesem Sommer – das freie, pluralistische und kritische Medium par excellence in Afghanistan. «Heute sind alle, die wir getroffen haben, nicht mehr dort», sagt der Tessiner Journalist traurig.

Zwar hatte im August, in den Tagen nach der Machtübernahme durch die Taliban, einer ihrer Sprecher gegenüber Reporter ohne Grenzen versichert, es werde «keine Drohungen oder Repressalien gegen Journalisten» geben. Einige Wochen später, im September, wurden jedoch mehrere Journalisten während einer Demonstration von Frauen verhaftet, die gegen ihre Diskriminierung durch das neue Regime protestierten. Ein Journalist und ein Kameramann der Tageszeitung Etilaat Roz wurden verprügelt und mit Kabeln ausgepeitscht, wie zahlreiche Medien berichteten. Der Reporter der Los Angeles Times, Marcus Yann, schrieb auf Twitter, er sei daran gehindert worden, über die Demonstration zu berichten, mit der Begründung, dass «der Islam das Fotografieren von Frauen verbietet». Nach einem Bericht unserer Organisation wurde die Ausrüstung einer ausländischen Fotografin innerhalb von drei Tagen zweimal beschlagnahmt.

Die Taliban «haben sich nicht verändert», ist Roberto Antonini überzeugt. Ihm zufolge sind es dieselben Menschen wie in den dunklen Jahren von 1996 bis 2001, bevor die Amerikaner ins Land kamen. Die Bilanz für die Pressefreiheit in dieser Zeit war katastrophal: Radio und Fernsehen waren verboten, mit Ausnahme des passend benannten Radio Charia.

Die Attentate gegen Medienschaffende schienen nach der Machtübernahme durch die Taliban aufgehört zu haben. Doch Anfang der Woche wurde in Kabul bei einer Explosion in einem Bus ein Journalist getötet; die Gruppe Islamischer Staat bekannte sich zum Anschlag. Auf jedem Fall ist es für afghanische Medienschaffende unmöglich, ihrer Arbeit normal nachzugehen. «Es gibt keine Möglichkeit, die Machthaber zu kritisieren, zu recherchieren, Missstände aufzudecken», sagt Antonini.

«Die Medien waren in Afghanistan noch nie frei», sagt Filippo Rossi, ein weiterer Tessiner Journalist, der heute in Istanbul lebt und ein hervorragender Kenner Afghanistans ist. Er erinnert daran, dass die im August gestürzte Regierung seinerzeit auch für die Verfolgung und Ermordung von Medienschaffenden verantwortlich war. Zum Beispiel wurde Shamshad TV kurz vor dem Sturz der Regierung vom afghanischen Vizepräsidenten wegen der Ausstrahlung eines Interviews bedroht: «Strahlen Sie es aus, werde ich Ihr Gebäude in Brand setzen», wurde den Verantwortlichen des Senders gesagt.

Nach Ansicht von Rossi ist es deshalb noch etwas zu früh, um den Zustand der Pressefreiheit in Afghanistan im Vergleich zur früheren Situation zu beurteilen. Nach der Ankunft der Taliban in Kabul konnte der Journalist gehen, wohin er wollte. Der einzige heikle Moment ereignete sich während einer Reportage in Panshir. Seine Ausrüstung wurde beschlagnahmt, aber er erhielt sie zwei Tage später zurück: «Nichts war gelöscht worden.»

Rossi räumt jedoch ein, dass die ausländischen Journalisten im Vergleich zu dem, was ihre afghanischen Kolleginnen und Kollegen erleiden mussten, verschont geblieben sind. Natürlich verurteilte er die Verhaftungen und die Gewalt gegen Medienschaffende. Er hat auch festgestellt, dass die Journalistinnen in Angst lebten. In der aktuellen Situation in Afghanistan, sagt er, sei der Wunsch, das Land zu verlassen, umso verständlicher, als das Land im Chaos versinke und die wirtschaftliche Lage ausserordentlich prekär sei.

Afghanistan braucht jedoch mehr denn je unabhängige und vertrauenswürdige Informationen. Im September unterzeichneten einhundertdrei afghanische Journalistinnen und Journalisten einen Hilfsappell, der über das internationale Sekretariat von RSF verbreitet wurde. Die Unterzeichnenden, die gezwungen sind, anonym zu bleiben, um sich nicht ernsthaften Gefahren auszusetzen, forderten die internationalen Institutionen auf, Druck auf das neue Regime auszuüben, um Garantien zu erhalten, insbesondere für Journalistinnen, die weiterhin im Land arbeiten wollen. «Die Zunahme der Vorfälle vor Ort [Anfang September]», schreiben sie, «die immer unverhohlenere Einmischung der Taliban in die Arbeit der Medien und die Unmöglichkeit für viele Journalistinnen, ihre Arbeit fortzusetzen, lassen uns das Schlimmste befürchten.»

In dem Appell verlangte sie auch volle Unterstützung der westlichen Länder für Medienschaffende, die nach ihrer Einschätzung ihren Beruf nicht mehr ohne ernsthafte Gefahr ausüben können und sich in Sicherheit bringen müssen.

Die Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen hat bei den Vorstehern des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten und des Justiz- und Polizeidepartements, Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter, interveniert und gefordert, dass die Schweiz gefährdete afghanische Journalistinnen und Journalisten aufnimmt.

In seiner Antwort vom 31. August wies der Staatssekretär für Migration, Mario Gattiker, jedoch darauf hin, dass nach Abschluss der Evakuierung der Schweizer Staatsangehörigen, der lokalen Angestellten der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und ihrer Familien sowie der Personen mit Aufenthaltsbewilligung oder mit einem so genannten Reiseersatzdokument für schriftenlose ausländische Personen, die Einreise in die Schweiz nur auf der Grundlage eines individuellen Antrags auf ein humanitäres Visum möglich sei.

Die Kriterien für die Gewährung einer solchen Genehmigung sind strikt. Das Gesuch muss bei einer Schweizer Vertretung im Ausland eingereicht werden – die Schweiz hat aber keine Vertretung mehr in Kabul. Viele Afghanen, die ein humanitäres Visum der Schweiz beantragen, müssen sich deshalb an die Schweizer Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad wenden. Zudem müssen sie einen engen Bezug zur Schweiz haben, insbesondere eine familiäre Verbindung.

Gemeinsam mit anderen Menschenrechtsorganisationen bedauert die RSF Schweiz diese Zurückhaltung und fordert weiterhin eine grosszügigere Aufnahme.

Denis Masmejan, Generalsekretär von RSF Schweiz

 

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