Reporter ohne Grenzen (RSF) und die mexikanische Partnerorganisation Propuesta Cívica reichten am 2. November beim Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf Beschwerden gegen Mexiko wegen des Verschwindens von Journalisten ein. Es sind die ersten Beschwerden dieser Art vor dem UNO-Gremium gegen den mexikanischen Staat. Der 2. November ist der Internationale Tag zur Beendigung der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalisten und Journalistinnen.

Als Beispiele haben die Organisationen die Fälle der 2008 beziehungsweise 2010 verschwundenen Journalisten Mauricio Estrada Zamora und Ramón Ángeles Zalpa aus dem Bundesstaat Michoacán ausgewählt. Eingelegt werden die Beschwerden, sogenannte individual communications, im Namen der Familien der beiden Medienschaffenden. Die Beschwerdeführer machen geltend, dass Mexiko aufgrund schwerwiegender Mängel bei den Ermittlungen gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstossen hat.

Die Beschwerden belegen insbesondere, dass die Rechte der beiden Journalisten auf Leben, Freiheit und Sicherheit, ihr Recht auf freie Meinungsäusserung, Schutz vor Folter und willkürlicher Inhaftierung sowie ihr Recht auf wirksame Rechtsbehelfe gemäss Artikel 2.3, 6.1, 7, 9, 16 und 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) verletzt wurden.

Ein Jahr Vorbereitung

Angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit, dass die mexikanischen Behörden nach mehr als zehn Jahren Straflosigkeit Fortschritte bei ihren Ermittlungen machen würden, beschlossen RSF und Propuesta Cívica, einen internationalen Schutzmechanismus in Anspruch zu nehmen. In enger Zusammenarbeit mit den Familien der verschwundenen Journalisten haben die beiden Organisationen mehr als ein Jahr lang die beiden Klagen vorbereitet. Nach Ansicht der Beschwerdeführer stellen die gravierenden Mängel bei den Ermittlungen eine Verletzung des ICCPR durch den mexikanischen Staat dar. Sie fordern daher den UNO-Menschenrechtsausschuss auf, Mexiko anzuweisen, in diesen Fällen wirksame und gründliche Untersuchungen durchzuführen, die Familien für ihr jahrelanges Leid zu entschädigen und sicherzustellen, dass sich derartige Vorfälle nicht wiederholen.

«Wir hoffen, dass die Tatsache, dass der Fall vor eine internationale Institution gebracht wird, den Familien der beiden verschwundenen Journalisten nicht nur die Möglichkeit gibt, auf ihr Schicksal und die Tragödie der Straflosigkeit aufmerksam zu machen, sondern auch eine neue Gelegenheit verschafft, Gerechtigkeit zu erlangen, die ihnen in ihrem eigenen Land verwehrt wird», kommentiert Antoine Bernard, Direktor Advocacy & Assistance bei RSF International.

Die Beschwerden wurden symbolträchtig am 2. November 2022 eingereicht, dem 2013 von der UNO-Generalversammlung ausgerufenen Internationalen Tag zur Beendigung der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalistinnen und Journalisten. RSF und Propuesta Cívica fordern den UNO-Menschenrechtsausschuss auf, beide Beschwerden zuzulassen und den Forderungen der Angehörigen sowie ihren Schilderungen über ihren jahrelangen vergeblichen Kampf für Gerechtigkeit und Zugang zur Justiz Gehör zu schenken.

Spurlos verschwunden: Mauricio Estrada Zamora und Ramón Ángeles Zalpa

Mauricio Estrada Zamora, ein 38-jähriger Kriminalreporter der Tageszeitung La Opinión de Apatzingán, verschwand am 13. Februar 2008 in der Stadt Apatzingán in Michoacán. Er wurde zuletzt gesehen, als er am Abend seine Redaktion verliess, um nach Hause zu seiner Frau und seinem kleinen Sohn zu fahren. Sein Auto wurde wenige Stunden später leer aufgefunden. Noch am selben Tag meldete seine Ehefrau ihn als vermisst. Ermittlungen wegen Entführung wurden aufgenommen. Estradas Bruder erhielt wenige Tage nach dem Verschwinden einen Anruf, in dem ihm gesagt wurde, Estrada sei nicht entführt, sondern festgenommen worden. Dem wurde jedoch nicht nachgegangen. Auch der Hinweis, dass Estrada einen Streit mit einem Polizisten gehabt haben soll, führte zu keinen Ergebnissen. 2012 nahm die mexikanische Sonderstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Meinungsfreiheit (FEADLE) Ermittlungen auf. Estradas Ehefrau unternahm zahlreiche vergebliche Anstrengungen, um die Ermittlungen voranzutreiben.

Der 46-jährige Ramón Ángeles Zalpa berichtete bei der Zeitung Cambio de Michoacán über die Probleme und Bedürfnisse der indigenen Gemeinden sowie über Missstände im Bildungsbereich und war zudem Dozent an der Nationalen Pädagogischen Universität. Er brach am frühen Nachmittag des 6. April 2010 von seiner Wohnung in Paracho, Michoacán, aus auf, um zu einer Baustelle auf dem Universitätsgelände zu fahren. Dort kam er jedoch nie an. Nachdem die Familie ihn am 7. April als vermisst meldete, leiteten lokale Behörden formell Ermittlungen ein. Zwei Wochen später nahm die FEADLE Ermittlungen auf. Wie es in der Beschwerde heisst, wurden jedoch nur in den Jahren 2010, 2012 und 2013 einige Ermittlungen durchgeführt, die alle im Sand verliefen. Beschwerden der Familie auf Bundesstaatsebene blieben ergebnislos, juristische Unterstützung erhielten die Angehörigen nur vorübergehend und auf unzureichende Weise.

Behörden verwehren Verschwundenen und Angehörigen ihre Rechte

RSF und Propuesta Cívica haben in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Michoacán, die als erste mit den Fällen befasst war, sowie auf mexikanischer Bundesebene zahlreiche Versäumnisse ausgemacht, die unmittelbar dazu führten, dass die Fälle bis heute nicht aufgeklärt sind. Keine der beiden Ebenen hat die mutmasslichen Verbrechen mit der gebotenen Sorgfalt untersucht und es gab nie ernsthafte Bemühungen, die Journalisten oder ihre sterblichen Überreste zu finden sowie die verantwortlichen Täter und Auftraggeber zu identifizieren.

«Mehr als zehn Jahre lang hat der mexikanische Staat diese beiden Familien völlig im Stich gelassen. Leider ist dies die Norm in Mexiko – wo noch nie ein Fall von gewaltsam verschwundenen Journalisten aufgeklärt wurde. Dieses unerklärliche Mass an Straflosigkeit lässt den Betroffenen keine andere Wahl, als auf alternativen Wegen Gerechtigkeit zu suchen», sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von RSF Deutschland.

100 Prozent Straflosigkeit nach Verschwinden von Medienschaffenden

In Mexiko sind aktuell 27 Medienschaffende spurlos verschwunden, darunter vier in Michoacán. In keinem der Fälle wurden je die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, es herrscht eine Straflosigkeitsquote von 100 Prozent. Insgesamt gelten in Mexiko seit 1964 mehr als 100’000 Personen als verschwunden. Das Problem betrifft das ganze Land, doch in Regionen mit einem hohen Mass an Kartell- und Bandengewalt ist es besonders dramatisch. 78 Prozent der Fälle ereigneten sich in nur zehn der insgesamt 31 Bundesstaaten, darunter Michoacán.

Die Familien der Betroffenen müssen, wie in den beiden Fällen aus Michoacán, ein hohes Mass an Eigeninitiative zeigen – sie wenden sie an eine Institution nach der anderen und führen oft sogar eigene Ermittlungen durch, um ihre Angehörigen möglichst lebend zu finden.

Reporter ohne Grenzen und Propuesta Cívica haben die Beschwerden beim UNO-Menschenrechtsausschuss im Rahmen ihres gemeinsamen Programms Defending Voices erarbeitet. Defending Voices wird vom deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert und hat zum einen zum Ziel, Gesetze zu ändern, die die Pressefreiheit einschränken, und zum anderen sicherzustellen, dass Medienschaffende, die Opfer von Verbrechen geworden sind, und ihre Familien Gerechtigkeit erfahren. Im April stellten die Organisationen im Rahmen des Programms dem mexikanischen Senat eine gemeinsame Initiative zur Reform von Gesetzen vor, die sich negativ auf die Pressefreiheit auswirken.

 

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