Ein mit dem BBC-Logo versehenes Video, in dem eine vermeintliche Studie von Reporter ohne Grenzen (RSF) über die nationalsozialistischen Neigungen ukrainischer Soldaten erwähnt wird, verbreitete sich zunächst über obskure Konten auf der Plattform X. Daraufhin wurde es von den russischen Behörden aufgegriffen und schliesslich durch kremlnahe Influencer verstärkt. RSF enthüllt die Hintergründe einer Desinformationskampagne, bei der falsche Informationen gezielt manipuliert wurden, um das Kriegsernarrativ Wladimir Putins zu untermauern.
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„Eine Lüge kann die halbe Welt umrunden, bevor die Wahrheit ihre Schuhe anzieht.“ Dieses häufig dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zugeschriebene Zitat scheint sich Russland voll und ganz zu eigen gemacht zu haben. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Untersuchung über das besagte Video, das mit dem BBC-Logo versehen ist und in dem RSF als Urheber einer angeblichen „Studie“ präsentiert wird, die angeblich 1000 Fälle ukrainischer Soldaten auflistet, die Sympathien für den Nationalsozialismus hegen, wurde der Inhalt bereits über 400’000 Mal abgerufen – vor allem auf X und Telegram. Die BBC hat das Video nie produziert, und RSF ist nicht Urheber dieser „Studie“. Auch Antoine Bernard, Direktor für Plaidoyer und Unterstützung bei RSF, dessen Bild ebenfalls in dem Video missbraucht wurde, hat zu keinem Zeitpunkt andere Medien aufgefordert, über dieses konstruierte Thema zu berichten.
„Die russischen Behörden agieren wie eine Wäscherei für Desinformation. Sie nutzen den Ruf bestimmter westlicher Organisationen – hier der BBC und RSF – um ihrer Kriegspropaganda Glaubwürdigkeit zu verleihen, und lassen die Fehlinformationen ungehindert zirkulieren, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Ähnlich wie eine kriminelle Organisation wenden sie auf dem Informationsfeld dieselben Methoden an, die Drogenhändler nutzen, um illegale Einkünfte zu legitimieren: Fehlinformationen werden erzeugt, ‚gewaschen‘ und dann wieder in den öffentlichen Diskurs eingespeist, wo sie als vermeintliche Realität akzeptiert werden sollen.“
Arnaud Froger, Leiter der Investigativabteilung von RSF
Unsere Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit Bloom Social Analytics, einem auf Einflussnahme spezialisierten französischen Start-up, durchgeführt wurde, zeigt, dass das Video erstmals am 24. August um 13 Uhr auf X auftauchte. Gepostet wurde es von einem Konto namens „Patricia“, das sich als „Übersetzerin“ ausgibt und angeblich in Frankreich lokalisiert ist. Das Profil postet in mehreren Sprachen, darunter Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch, und veröffentlicht seit seiner Gründung im Februar 2024 durchschnittlich 40 Beiträge pro Tag. Das Profilbild stammt von einer russischen Webseite, die Fotos von blonden Frauen „zur Herstellung von Avataren“ anbietet. Der Name des Kontos scheint von X automatisch generiert worden zu sein. „Patricia“ äussert laut Grok, einem von Elon Musk entwickelten KI-Tool, „sehr entschiedene Meinungen“, die regelmäßig Russland und Wladimir Putin unterstützen, während sie die Ukraine und deren europäische Unterstützer scharf kritisiert. Kurz gesagt: ein Troll.
Von diesem gefälschten und sehr aktiven Konto aus, das in mehreren Sprachen kremlfreundliche Propaganda verbreitete, begann die Falschmeldung zunächst leise zu zirkulieren. Am Abend des gleichen Tages wurde sie von Chay Bowes, einem irischen Unternehmer mit einer journalistischen Vergangenheit, weiterverbreitet. Bowes hat sich mittlerweile zu einem der wichtigsten westlichen Sprachrohre Russlands entwickelt und lebt dort. Im Juni 2023 wurde er von Moskau eingeladen, vor dem UN-Sicherheitsrat zu sprechen, wo er die NATO beschuldigte, in der Ukraine einen „Stellvertreterkrieg“ zu führen.
Am folgenden Tag trug „Aussie Cossack“, dessen echter Name Simeon Boikov ist, zur weiteren Verbreitung der Desinformation bei, indem er das Video über seinen Telegram-Kanal mit 83’000 Abonnenten teilte. Boikov ist bekannt dafür, nach einem Angriff auf einen pro-ukrainischen Demonstranten in das russische Konsulat in Sydney geflüchtet zu sein, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Seitdem hat er die russische Staatsbürgerschaft erhalten.
Angesichts dieser Desinformation bleibt die Reaktion der Plattformen weitgehend aus. Die Falschmeldung, die sich auf Telegram, dem am stärksten frequentierten Messenger-Dienst in Russland, etablierte, wurde schliesslich von den russischen Behörden offiziell übernommen. Zuerst wurde sie in einer Pressekonferenz am 28. August von der Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, wiederholt, danach durch die russischen Botschaften in Chile und Bulgarien sowie auf der Webseite des Aussenministeriums verbreitet.
Nachdem die Desinformation durch offizielle Kanäle „gewaschen“ und normalisiert wurde, verbreitete sie sich durch bekannte Akteure des russischen Informationsraums noch weiter. Am 4. September griff Ruslan Ostaschko, Moderator bei Channel One (dem führenden Propagandakanal Russlands) und Mitglied von „Team Putin“, das Video auf seinem Telegram-Kanal auf. An diesem Tag erreichte das Video mit über 156.000 Aufrufen seinen Höhepunkt, nachdem es vom Militärblogger Sergej Kolyasnikov geteilt worden war. In Frankreich verbreitete der kremlfreundliche X-Account „Brainless Partisans“ das Video weiter. Dieser Account ist bereits für die Verbreitung eines gefälschten Videos bekannt, das USA Today zugeschrieben wurde und in dem behauptet wurde, die „Church of Satan“ habe sich bei den Organisatoren der Olympischen Spiele in Paris bedankt.
Obwohl RSF 12 Beschwerden an X gerichtet hat, blieb die Plattform bislang untätig. In einer Antwort hiess es, einige Beschwerden würden noch geprüft, während andere unter die „nicht löschbaren“ Inhalte gemäss dem Rechtsrahmen des EU-Digital Services Act fielen. Eine unhaltbare Situation, da alle notwendigen Informationen zur Entfernung der irreführenden Inhalte von unserer Organisation bereitgestellt wurden. Bislang hat auch Telegram auf vier Anfragen nicht reagiert.
Chay Bowes, der irische Unternehmer, der das Video als einer der ersten verbreitet hatte, zog seinen Beitrag nach einer Kontaktaufnahme durch RSF zurück. Maria Sacharowa wurde per E-Mail und Telegram kontaktiert, hat aber bisher nicht angegeben, ob sie ein Korrekturstatement bei ihrem nächsten Pressebriefing abgeben oder die Falschmeldung auf der Webseite des russischen Aussenministeriums berichtigen wird.
Russland belegt in der jährlich von RSF veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit Platz 162 von 180 Ländern.