Vor den Wahlen in der Türkei am Sonntag (24.06.) kritisiert Reporter ohne Grenzen (ROG) die massiven Verletzungen der Medienfreiheit im Land, die eine demokratische Auseinandersetzung nahezu unmöglich gemacht haben. Mithilfe einer Willkürjustiz werden seit dem Putschversuch vor zwei Jahren kritische Stimmen zum Schweigen gebracht, mehr als 100 Journalisten sitzen derzeit im Gefängnis. Unter dem Ausnahmezustand wurde der Medienpluralismus weitgehend zerstört und ganze Teile der Medienlandschaft mit einem Federstrich beseitigt.

Die Türkei stimmt am Sonntag rund eineinhalb Jahre früher als geplant über ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten ab. Nach der Wahl soll das Präsidialsystem in Kraft treten, über das die Türkei im April 2017 in einem knappen Referendum abgestimmt hatte und das dem Staatspräsidenten deutlich mehr Macht verleihen würde. Die Gegenkandidaten von Erdogan haben angekündigt, die Verfassungsreform rückgängig zu machen.

Einseitige Berichterstattung

Die großen Fernsehsender haben Erdogans Wahlreden stundenlang live übertragen. Im Mai 2018 erhielt die Regierungspartei AKP beim Staatssender TRT 68 Stunden Sendezeit, die größte Oppositionspartei CHP sieben Stunden, die kleineren Oppositionsparteien jeweils nur wenige Minuten. Die pro-kurdische HDP, deren Anführer Selahattin Demirtas seit 2016 inhaftiert ist, wurde komplett ignoriert.

Am 24. Mai übertrugen zwölf private und öffentliche Fernsehsender über Stunden den Wahlkampf der AKP. Über den Wahlkampf von Oppositionsparteien berichteten drei große Fernsehsender am 11. Juni zum ersten Mal überhaupt.

Medien per Dekret geschlossen

Der Medienpluralismus in der Türkei ist weitgehend zerstört. Rund 150 Medien wurden seit dem Putschversuch im Juli 2016 geschlossen. Die wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien, darunter etwa die Zeitungen Cumhuriyet und Birgün, haben lediglich eine geringe Auflage.

Ein Wendepunkt für die Medienlandschaft in der Türkei war der Verkauf der Dogan Mediengruppe an einen regierungsnahen Unternehmer im März 2018. Damit gehört die größte Mediengruppe in der Türkei dem Konzern Demirören, dessen Besitzer Erdogan Demirören Verbindungen zum türkischen Präsidenten hat. So war Erdogan 2003 – damals noch Ministerpräsident – Trauzeuge von Demirörens Sohn.

Die Dogan-Gruppe war zuvor die einzige verbleibende Mediengruppe, die nicht unter die Kontrolle der türkischen Regierung gebracht worden war. Zur ihr gehörten unter anderem der Fernsehsender CNN Türk, die auflagenstarke Tageszeitung Hürriyet, die englischsprachige Zeitung Hürriyet Daily News und die Nachrichtenagentur DHA.

Bereits im Jahr 2011 hatte die Dogan-Gruppe die renommierte Zeitung Milliyet an den Demirören-Konzern verkauft. Galt sie einst als eine der Säulen des unabhängigen Journalismus in der Türkei, ist die Zeitung seitdem ein integraler Bestandteil der Regierungspropaganda.

Nach dem Verkauf der Dogan-Mediengruppe gehören neun der zehn meistgesehenen Fernsehsender und neun der zehn meistgelesenen überregionalen Tageszeitungen regierungsfreundlichen Unternehmen.

Schon vor der Repressionswelle seit dem Putschversuch hat die zunehmende Medienkonzentration in der Türkei die Freiräume für unabhängigen Journalismus immer weiter eingeengt. Wie die Recherchen des Projekts Media Ownership Monitor in der Türkei zeigen, ersticken die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen vieler wichtiger Medienbesitzer eine kritische Berichterstattung im Keim. Die meisten Medienbesitzer sind auf öffentliche Aufträge in anderen Branchen wie Energie, Transportwesen oder Bauwirtschaft angewiesen und dementsprechend zurückhaltend mit Kritik an der Regierung.

Kritische Journalisten in Haft

Mehr als 100 Medienschaffende sitzen derzeit in der Türkei im Gefängnis. Die türkische Justiz hält Journalisten mit Hilfe von Untersuchungshaft über längere Zeiträume systematisch fest. Kritik an der Regierung, die Arbeit für eine „verdächtige“ Redaktion, der Kontakt mit einer heiklen Quelle oder die bloße Nutzung eines verschlüsselten Messenger-Dienstes reichen aus, um Journalisten wegen Terrorismus-Vorwürfen zu inhaftieren.

Unter dem Ausnahmezustand sind Willkürentscheidungen an die Stelle rechtsstaatlicher Verfahren getreten. Was das für Journalisten bedeutet, zeigt der Prozess gegen 14 Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet. Ein Gericht verhängte Ende April unter anderem gegen Geschäftsführer Akin Atalay, Chefredakteur Murat Sabuncu und Investigativjournalist Ahmet Sik mehrjährige Haftstrafen. Die türkische Justiz wirft ihnen eine „radikale Veränderung der redaktionellen Ausrichtung“ vor, um die Ziele von drei ideologisch völlig konträren Gruppierungen zu unterstützen, an denen die Zeitung stets deutliche Kritik geübt hatte. Die Anklageschrift ist von sachlichen Fehlern durchzogen und stützt sich vor allem auf falsche Interpretationen von Zeitungsartikeln sowie auf Kontakte zwischen Journalisten und ihren Informanten. Bis zu einem Urteil im Berufungsverfahrens bleiben die Mitarbeiter auf freiem Fuß, sie dürfen die Türkei jedoch nicht verlassen.

Prozesse gegen Journalisten gehen nach den Wahlen weiter

Am 28. Juni beginnt der Prozess gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Der Korrespondent der Zeitung Die Welt wurde Mitte Februar nach rund einem Jahr in Untersuchungshaft freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren. In der im Februar vorgelegten und nur drei Seiten umfassenden Anklageschrift wird Yücel „Propaganda für eine Terrororganisation“ und „Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit“ vorgeworfen.

Eine Woche später wird ein Urteil im Prozess gegen elf Journalisten und Kolumnisten der mittlerweile geschlossenen Zeitung Zaman erwartet, die unter anderem wegen verschiedener Terrorvorwürfe vor Gericht stehen. Trotz des Mangels an ausreichenden Beweisen drohen fünf Mitarbeitern lebenslange Haftstrafen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 157 von 180 Staaten.

 

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