Ende September haben sich Printmedienverlage und Pressevertriebsunternehmen aus aller Welt in Berlin zum jährlichen Distripress-Kongress getroffen. Anlässlich dieses Kongresses hat Reporter ohne Grenzen International (ROG) seinen neuesten Bericht veröffentlicht. Unter dem Titel «Newspapers that never arrive» zeigt er auf, wie Regierungen, staatliche Institutionen, mächtige Oligarchen und Konzerne die Verbreitung von Printmedien behindern.
Weltweit greifen Feinde der Pressefreiheit zu heimtückischen Methoden, damit kritische Zeitungsartikel nicht erscheinen. Dabei geraten nicht nur Journalistinnen und Journalisten in ihr Visier, sondern auch Personen, die selten im Impressum stehen: Zeitungsverkäufer, Druckerinnen und Lieferanten spielen eine entscheidende Rolle dabei, dass die Zeitung ihre Leserinnen und Leser erreicht. In Pakistan etwa fangen Sicherheitskräfte Lieferwagen ab und greifen die Fahrer an. Im Sudan beschlagnahmt der Geheimdienst regelmässig ganze Ausgaben gleich nach dem Druck. In Mexiko werden Zeitungsverkäuferinnen und -verkäufer ermordet.
In einem ausführlichen Themenbericht unter dem Titel «Newspapers that never arrive» hat Reporter ohne Grenzen (ROG) nun untersucht, wie systematisch Regierungen, staatliche Institutionen, mächtige Oligarchen und Unternehmen den Vertrieb von Zeitungen behindern und damit den Zugang zu Informationen einschränken.
«Sie werden selten in einer Zeitung genannt, und sie befinden sich quasi in einem toten Winkel der Medienwahrnehmung, aber die Drucker, Vertriebe und Verkäufer von Zeitungen sind wichtige Glieder in der Kette der Informationsfreiheit», sagte Christophe Deloire, Generalsekretär von ROG International: «Es reicht nicht aus, dass Medienschaffende frei sind, zu recherchieren und zu schreiben. Das Produkt ihrer Arbeit muss die Leserinnen und Leser ungehindert erreichen können. Andernfalls wird der Öffentlichkeit die Nachrichten- und Informationsvielfalt vorenthalten, die für jede Demokratie unerlässlich ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit und Dringlichkeit, den Schleier über Praktiken zu lüften, die unser Grundrecht auf Information gefährden.»
Für die Recherchen hat ROG in mehr als 90 Ländern mit Journalistinnen und Journalisten sowie Beschäftigten aus dem Zeitungsvertrieb gesprochen. Er erklärt anhand von 28 Beispielen, welchen Risiken Printmedien auf dem Weg zu ihren Leserinnen und Lesern während des Drucks, Transports und Verkaufs ausgesetzt sind.
Inhalte heimlich ausgetauscht, Ausgaben konfisziert
Mehr als die 60 Prozent der Befragten berichten von Zensurversuchen, noch bevor Zeitung oder Zeitschrift gedruckt werden. Diese finden oft noch in letzter Minute statt, wie einige Vorfälle in Gabun zeigen. Die Journalisten und Leserinnen der regierungskritischen Wochenzeitung La Loupe staunten am 2. September 2014 nicht schlecht, als die neueste Ausgabe den Präsidenten Ali Bongo und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den höchsten Tönen lobte. Der komplette Inhalt war durch Artikel ersetzt worden, die der redaktionellen Linie des Blattes völlig widersprachen. Der Vorfall wiederholte sich mit einer Ausgabe, in der der Chefredakteur als Betrüger beschimpft wurde. Wie sich später herausstellte, hatte der Präsidentenpalast zwei Layouttechniker eingeschleust, die die ursprünglich für die Ausgabe geplanten Artikel kurz vor dem Druck austauschten.
Einige Regierungen versuchen die Zensur gar nicht erst zu verheimlichen. In Ägypten etwa hilft die staatliche Druckerei Al Ahram der Regierung von Präsident Abdelfattah al-Sisi dabei, die Veröffentlichung kritischer Artikel zu verhindern. Al-Sisi ist einer der grössten Feinde der Pressefreiheit weltweit, mindestens 25 Medienschaffende sitzen in Ägypten wegen ihrer Arbeit in Haft.
Im Mai 2019 teilte die Druckerei der Wochenzeitung Al Ahaly mit, eine komplette Ausgabe nicht zu drucken, sollte die Zeitung die Titelgeschichte nicht streichen. Al Ahaly ist mit einer Oppositionspartei verbunden und hatte einen kritischen Artikel über angebliche persönliche Bereicherung einer ehemaligen Ministerin geschrieben. Die Redaktionsleitung beugte sich dem hohen Druck und strich den Artikel in der Printausgabe. Der Bericht erschien dennoch online und verbreitete sich auf sozialen Netzwerken. Er wurde laut Angaben des Chefredakteurs mehr als 50‘000 Mal gelesen. In der darauffolgenden Woche verlangte die Druckerei erneut, einen Artikel über eine mögliche Kabinettsumbildung zu streichen. Weil sich Al Ahaly weigerte, erschien die Ausgabe nicht.
Wenn es bereits zu spät ist, den Inhalt zu ändern, und die Zeitung gedruckt wurde, werden ganze Ausgaben beschlagnahmt. So hat im Sudan der Geheimdienst NISS im Auftrag des ehemaligen Präsidenten Omar al-Bashir in den vergangenen 30 Jahren hunderte sudanesische Zeitungsausgaben konfisziert, die gerade aus der Druckerpresse kamen. Mit dem Beginn von Anti-Regierungsprotesten Ende 2018, die al-Bashir Monate später das Amt kosteten, verschlechterte sich die Situation. Im Januar 2019 wurden fast täglich frisch gedruckte Ausgaben beschlagnahmt.
Monopolstellungen verschärfen das Problem. Dominieren Regierungen oder mächtige Pressekonzerne den Druck und Vertrieb von Printtiteln, haben sie grossen Einfluss darauf, welche Zeitungen Informationen verbreiten können und welche nicht. Das zeigt sich vor allem in Venezuela, wo ein Ableger des Kommunikationsministeriums ein De-facto-Monopol auf den Import, Transport und Verkauf von Zeitungspapier hält. Laut der NGO Instituto Prensa y Sociedad Venezuela mussten seit 2013 insgesamt 67 Zeitungen ihre Printaushabe einstellen. Hauptgrund dafür war ein Mangel an Zeitungspapier. Jüngste Beispiele sind die 1914 gegründete Zeitung Panorama und die 1943 gegründete Tageszeitung El Nacional aus Caracas. Auch in Nicaragua fehlt es privaten Printmedien an Zeitungspapier und sogar Druckerschwärze, deren Import seit September 2018 verboten ist. Weil nur 20 Prozent der Bevölkerung einen Onlinezugang haben, wird das Internet allein das Überleben der Zeitungen nicht sichern können.
Fallstricke beim Zeitungstransport
Wer kritische Informationen unterdrücken will, nutzt zudem die vielen Schwachstellen während des Zeitungstransports aus. Mehr als 22 Prozent der von ROG Befragten berichten von Zensur bei der Lagerung oder beim Transport von Zeitungen. In einigen Ländern werden Lieferwagen von der Polizei verfolgt oder an Kontrollpunkten des Militärs angehalten. In Juni 2014 etwa durchsuchte die nigerianische Armee nach einem Anstieg von bewaffneten Angriffen der Gruppe Boko Haram Fahrzeuge, die Zeitungen in die Hauptstadt Abuja transportieren. Laut einem Armeesprecher sollte dadurch die Verbreitung von Material, das «die Sicherheit Nigerias bedroht», verhindert werden. Es blieb nicht bei Durchsuchungen: Ausgaben der fünf Tageszeitungen Leadership, The Nation, The Punch, Vanguard und Daily Trust wurden beschlagnahmt und vernichtet.
In Pakistan werden Exemplare der ältesten englischsprachigen Tageszeitung des Landes, Dawn, im ganzen Land immer wieder beschlagnahmt. Seit der Veröffentlichung eines Interviews mit dem ehemaligen Premierminister Nawaz Sharif im Mai 2018 nehmen die Schikanen durch das mächtige Militär weiter zu. In vom Militär direkt oder indirekt kontrollierten Gebieten wird der Vertrieb von Dawn fast täglich unterbrochen. Sicherheitskräfte haben LKW-Fahrer körperlich angegriffen und ihnen mit Vergeltung gedroht, sollten sie die Zeitung weiter vertreiben. Infolgedessen hat die Zeitung viele Werbekunden verloren und Umsätze eingebüsst.
Müssen Printmedien in andere Länder transportiert werden, steigt das Risiko, dass sie dort niemals ankommen. Die serbische Gemeinschaft im Kosovo kann dort seit November 2018 keine serbischsprachigen Zeitungen mehr kaufen. Hintergrund ist eine Vergeltungsmassnahme: Der Kosovo hat plötzlich den Importzoll für serbische Produkte einschliesslich Zeitungen um 100 Prozent erhöht, nachdem Serbien zuvor erfolgreich verhindert hatte, dass der Kosovo in die Polizeiorganisation Interpol aufgenommen wird. Weil keine serbischsprachigen Printtitel im Kosovo gedruckt werden, verschwanden diese innerhalb einer Woche von den Zeitungsständen im Land.
Eine Woche nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 erschien die nächste Ausgabe mit acht Millionen Exemplaren. Erstmals wurde sie auch in die USA und nach Grossbritannien exportiert. Über einige Landesgrenzen kam sie jedoch nicht. Wegen des Vorwurfs der Blasphemie gegen den Islam wurde der Vertrieb in vielen muslimischen Ländern gestoppt, darunter im Senegal, in Marokko, Algerien, Tunesien und Pakistan.
Zeitungsstand ohne Zeitungen
Ob Zeitungsverkäufer, Kioskinhaberinnen oder Strassenhändler – sie sind das letzte Glied in der Vertriebskette von Printmedien und damit auch die letzte Möglichkeit, die Verbreitung kritischer Artikel zu verhindern. Knapp 41 Prozent der von ROG Befragten berichten von Zensurversuchen zum Zeitpunkt des Verkaufs.
In Mexiko, einem der gefährlichsten Länder für Medienschaffende weltweit, ist der Beruf des Zeitungsverkäufers ein riskanter. Dort werden sie auch «voceadores» genannt, eine Anspielung darauf, dass sie die Überschriften des Tages laut vorlesen. Sie sind zu Fuss, auf dem Fahrrad oder im Auto unterwegs und spielen eine wichtige Rolle darin, hunderttausende Menschen auch in den abgelegensten Ecken Mexikos zu informieren. Jedes Jahr werden voceadores ihrer Zeitungen beraubt, angegriffen, bedroht oder sogar ermordet. Unter ihnen war auch Meréndez «Mere» Hernández Tiul. Er fuhr am Morgen des 24. Januar 2018 in einem Lautsprecherwagen auf dem Dach durch die Kleinstadt Francisco Rueda und verkaufte die Zeitungen El Choco und Novedades de Tabasco. Die Stadt liegt in einem Gebiet des Bundesstaats Tabasco, in dem organisierte Kriminalität weit verbreitet ist. Tiul verkündete die Verhaftung einer Gruppe angeblicher Motorraddiebe in Francisco Rueda, als sich ihm zwei Männer näherten, die mit einem der im Artikel genannten Inhaftierten verwandt sind. Laut dem stellvertretenden El-Choco-Chefredakteur schoss einer der Männer auf Tiul, «weil ihm der Artikel nicht gefiel». Mit einer Schusswunde im Kopf fuhr Tiul zum nächsten Krankenhaus, starb jedoch, bevor er behandelt werden konnte.
Teilweise verschwinden ganze Ausgaben von Zeitungsständen, so wie in Madagaskar am 18. September 2018. Die Redaktion der alle zwei Wochen erscheinenden Zeitung Telonohorefy rechnete damit, dass alle Exemplare schnell ausverkauft sein würden, da die Titelgeschichte über eine angebliche Affäre zwischen der Frau des Präsidenten und einem seiner Berater berichtete. Tatsächlich suchten Leserinnen und Leser die Ausgabe morgens vergeblich am Zeitungsstand: Alle verfügbaren Exemplare wurden «so diskret wir möglich von Regierungsvertreterinnen und -vertretern gekauft», erinnert sich ein Zeitungsmitarbeiter.
Weniger diskret sind die Behörden in Äquatorialguinea. Am 1. August 2017 wurden alle Exemplare der regierungsfreundlichen Wochenzeitung Ebano aus dem Verkauf genommen und verbrannt. Die Zeitung hatte ein Interview mit dem freien Journalisten Samuel Obiang Mbana veröffentlicht, der unter anderem für AFP und Deutsche Welle berichtet. In dem Interview kritisierte er die Schikanen der Regierung gegen Medien und den respektlosen Umgang der Polizei gegenüber Journalistinnen und Journalisten. Die Regierung müsse laut Mbana dafür sorgen, dass die Polizei zur Rolle von Medien und der Notwendigkeit journalistischer Arbeit geschult werde.
Serientäter: Zensur vom Druck bis zum Verkauf
Eine Reihe von Ländern unterbricht die Vertriebskette nicht nur einmal, sondern setzt gleich an mehreren Stellen an, um Zeitungen auf dem Weg zum Kiosk aufzuhalten. Ein Beispiel ist Russland. Der Transport von Zeitungen und Magazinen per Post zu Abonnentinnen und Abonnenten in dem 17 Millionen Quadratkilometer grossem Land verursacht hohe Kosten, die durch jährliche staatliche Subventionen von 3,5 Milliarden Rubel (50 Millionen Euro) ausgeglichen wurden. 2014 strich Russland die Subventionen, weshalb die Post die Kosten drastisch erhöhen musste. Infolge ist die Anzahl von Zeitungs-Abos deutlich gefallen. Zudem wurden zahlreiche Zeitungskioske abgerissen, weil sie angeblich das Stadtbild entstellt hätten. Von den 29‘000 Kiosken im Jahr 2014 waren rund vier Jahre später nur noch 14‘900 übrig.
In Ruanda kontrolliert die Regierung die einzige Druckerpresse für Zeitungen. Herausgeberinnen und Herausgeber dürfen nicht mehr im Ausland, insbesondere im Nachbarland Uganda drucken, wo die Kosten deutlich günstiger waren. Verkaufsstellen für Zeitungen und Zeitschriften gibt es kaum noch. Früher wurden sie an Kiosken, auf der Strasse oder an Bahnhöfen verkauft, aber unabhängige Zeitungen sind nicht länger im Umlauf. Nur die beiden regierungsfreundlichen Zeitungen The New Times und ImvahoNshaya werden gedruckt und in einigen Supermärkten verkauft. Zwar liegt hier auch die regionale englischsprachige Zeitung The EastAfrican aus, jedoch ist der Leseranteil gering, da die meisten Menschen in Ruanda nur die Sprache Kinyarwanda lesen können. (ROG Deutschland)
ROG-Bericht «Newspapers that never arrive» in Englisch: en_rapport_entrave_web_1