Reporter ohne Grenzen (RSF) veröffentlicht am 8. März den Bericht «Wie Sexismus Journalistinnen bedroht». Er zeigt das Ausmass von geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt, dem Journalistinnen ausgesetzt sind, aber auch mögliche Auswirkungen dieser Gewalt: Selbstzensur, Berufsaufgabe, Verringerung des journalistischen Pluralismus. In der Schweiz macht derweil ein offener Brief von Tamedia-Journalistinnen auf deren Situation aufmerksam.

Journalismus kann für Männer wie für Frauen ein gefährlicher Beruf sein. Doch Journalistinnen gehen in ihrem Berufsalltag oft doppelte Risiken ein: Sexuelle Belästigung durch Interviewpartner, frauenverachtende Hasskommentare im Netz und Benachteiligung gegenüber männlichen Kollegen sind nur einige Beispiele davon. In welchem Ausmass und mit welchen Folgen für Journalistinnen in zahlreichen Ländern dies geschieht, zeigt ein Themenbericht von Reporter ohne Grenzen zum Internationalen Frauentag am 8. März (RSF_Frauentag_2021_Sexismus_Journalismus).

Befragung von Expertinnen und Experten in 112 Ländern

Der Bericht basiert auf einer Befragung, an der im Sommer letzten Jahres 112 Personen aus 112 Ländern teilgenommen haben – Korrespondentinnen und Korrespondenten von RSF sowie auf Genderfragen spezialisierte Journalistinnen und Journalisten. Ihre erschreckende Bilanz: 40 der Teilnehmenden stufen ihr eigenes Land als «gefährlich» oder «sehr gefährlich» für Journalistinnen ein. Gefahr droht ihnen nicht nur ausserhalb, sondern auch innerhalb der Redaktionen. Unter den «sehr gefährlichen» sind Länder wie Mexiko, Indien und Syrien, die RSF jedes Jahr auch geschlechtsunabhängig zu den gefährlichsten Ländern für Medienschaffende weltweit zählt. Aber auch europäische Länder wie Polen, die Ukraine und Serbien wurden als riskant eingestuft.

Zum Weltfrauentag 2018 hatte RSF bereits einen Bericht über die Schwierigkeiten vorgelegt, mit denen sich männliche und weibliche Medienschaffende konfrontiert sehen, die über das Thema Frauenrechte berichten. Seitdem hat sich das Klima gegenüber feministischen Journalistinnen und Journalisten, aber auch gegenüber Journalistinnen im Allgemeinen deutlich verschärft.

Internet als gefährlichster Ort für Journalistinnen

Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen die Beobachtungen, die RSF in den vergangenen Jahren gemacht hat: So ist das Internet mittlerweile der gefährlichste Ort für Journalistinnen; 73 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Land Journalistinnen sexistischer Gewalt im Netz ausgesetzt seien. Die indische Kolumnistin und Investigativjournalistin Rana Ayyub ist ein prominentes Beispiel dafür. Sie erhält täglich Vergewaltigungs- und Morddrohungen in den sozialen Medien. Nachdem ein gefälschter pornografischer Film von ihr im Netz verbreitet wurde, erlitt sie einen Zusammenbruch.

58 Prozent der Befragten gaben zudem an, dass am Arbeitsplatz geschlechtsspezifische Gewalt gegen Journalistinnen ausgeübt werde. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser relativ hohe Prozentsatz auf das gestiegene Bewusstsein für das Thema zurückzuführen ist. Für Aufklärung sorgten vor allem die internationale sowie nationale #MeToo-Debatten und mehrere prominente Fälle von Journalistinnen etwa in den USA (die ehemaligen Fox-News-Moderatorinnen Gretchen Carlson und Megyn Kelly), Japan (Shiori Ito) oder Indien, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz anprangerten. Vor wenigen Monaten machte die prominente dänische TV-Moderatorin Sofie Linde im Rahmen einer Fernsehgala öffentlich, vor Jahren von einem hochrangigen Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sexuell belästigt worden zu sein. In Dänemark, das weltweit als Vorbild bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen gilt, löste dies ein landesweites gesellschaftliches Erdbeben aus.

«Wir haben die dringende Verpflichtung, den Journalismus mit aller Kraft gegen alle drohenden Gefahren zu verteidigen, und sexistische und sexuelle Aggression und Einschüchterung gehören dazu», schreibt Christophe Deloire, Generalsekretär von RSF International im Vorwort des Berichts. «Es ist unerträglich, dass Journalistinnen mit deutlich grösseren Gefahren konfrontiert sind als ihre männlichen Kollegen und sich an einer zusätzlichen Front verteidigen müssen – einer komplexeren Front, die ausserhalb der Redaktion, aber manchmal auch innerhalb dieser lauert.»

Besonders viele Übergriffe bei den Themen Frauenrechte, Politik und Sport

In besonderem Masse Gewalt ausgesetzt sind Journalistinnen, die sich auf Frauenrechte, Politik und Sport spezialisiert haben. Die saudische Journalistin Nouf Abdulaziz al-Jerawi wurde inhaftiert, weil sie sich öffentlich dagegen ausgesprochen hatte, dass Frauen in ihrem Land einen männlichen Vormund haben müssen. Während ihrer Haft wurde sie mit Elektroschocks gefoltert und sexuell missbraucht.

In Brasilien musste die Journalistin Patricia Campos Mello einen hohen Preis für ihre Recherchen darüber bezahlen, wie sich Jair Bolsonaro im Präsidentschaftswahlkampf eine Desinformationskampagne illegal finanzieren liess. Präsident Bolsonaro und seine Söhne beschuldigten sie, sich Informationen dazu mit sexuellen Gefälligkeiten erschlichen zu haben. Deshalb wurde sie zur Zielscheibe einer frauenverachtenden Cyber-Hetzkampagne. Ebenfalls in Brasilien riefen etwa 50 Sportjournalistinnen die Bewegung #DeixaElaTrabahlar (#LassSieArbeiten) ins Leben, um anzuprangern, dass immer wieder bei Live-Berichten Sportfans Reporterinnen Küsse aufzwingen. Und in Frankreich taten sich nach Berichten über Belästigungen in Sportredaktionen fast 40 Journalistinnen der Sportzeitung L’Equipe zusammen, um sich mit betroffenen Kolleginnen solidarisch zu zeigen.

RSF untersucht in dem Bericht auch die Konsequenzen dieser Gewalt. Erlittene Traumata bringen betroffene Journalistinnen dazu, sich selbst zu zensieren oder gar ihren Beruf aufzugeben – was den journalistischen Pluralismus verringert. 43 Prozent der Befragten gaben an, dass Journalistinnen in ihrem Land als Reaktion auf geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt ihre Konten in sozialen Netzwerken vorübergehend oder sogar dauerhaft löschen, 48 Prozent berichteten von Selbstzensur sowie je 21 Prozent von Wechseln des Spezialgebiets oder sogar von Berufsaufgabe.

Der Bericht schliesst mit einer Reihe von Empfehlungen, die helfen sollen, den Kreislauf von Gewalt und Diskriminierung zu durchbrechen. Sie richten sich an Journalistinnen und Journalisten, Redaktionen und die Politik.

Unter Sexismus sind in diesem Bericht alle Formen geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu verstehen: Diskriminierung, Beleidigungen, sexuelle Belästigung, Berührungen, verbale und körperliche Übergriffe sexueller Natur, Vergewaltigungsdrohungen, Vergewaltigung.

Hier finden Sie die deutschsprachige Version des Berichts:RSF_Frauentag_2021_Sexismus_Journalismus

In der Schweiz haben anlässlich des Frauentags fast 80 Journalistinnen aus Tamedia-Redaktionen einen offenen Brief an Geschäftsleitung und Chefredaktion unterzeichnet, in dem sie eine Reihe von Forderungen stellen. Sie seien nicht bereit, «diesen Zustand länger hinzunehmen» schreiben sie und fassen die Situation so zusammen: «Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlohnt.»

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