Der Hörsaal ist voll, als der Journalist und Produzent von Temps présent, Jean-Philippe Ceppi, an diesem Mittwoch, 7. Oktober 2022, an der Universität Lausanne-Dorigny – erfolgreich – seine Doktorarbeit in Geschichte verteidigt. Sein Thema: Die versteckte Kamera im Fernsehjournalismus in Frankreich, den USA, Grossbritannien und der Schweiz zwischen 1960 und 2015. 675 eng bedruckte Seiten, eine von der Jury der Doktorarbeit gelobte Leistung für jemanden, der nebenbei noch einschränkende berufliche Verpflichtungen hatte. Ceppi ist ein sehr erfahrener Reporter, der während des Völkermords aus Ruanda berichtete, aus Südafrika, aus Kenia. Er ist ein würdiger geistiger Sohn des Freiburger Journalisten Roger de Diesbach, eines Pioniers des investigativen Journalismus in der Schweiz, und hatte immer eine offensive und hartnäckige Vorstellung vom investigativen Journalismus.

– Weshalb haben Sie dieses Thema gewählt?

– Jean-Philippe Ceppi: Mir fiel auf, dass fast überall auf der Welt, auch in Ländern wie Ghana oder Indien, sehr spektakuläre und aussagekräftige Reportagen mit versteckter Kamera gedreht wurden. 2003 strahlte die BBC beispielsweise The Secret Policeman aus, einen Dokumentarfilm, der mit versteckter Kamera von einem in die Polizei von Manchester eingeschleusten Reporter gedreht wurde und den Rassismus der Polizisten aufzeigte. Und zur gleichen Zeit gab es in der Schweiz eine repressive Welle. So wurden etwa Kassensturz-Reporter verurteilt, weil sie einen Versicherungsmakler in eine Falle gelockt hatten – und erst viel später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte rehabilitiert. 2012 sorgte der Einsatz einer versteckten Kamera für einen Bericht von Temps présent über Auftragskiller intern für sehr viel Wirbel. Ich sagte mir, dass in der Schweiz etwas nicht stimmt. Zwischen 2008 und 2015 gab es ein generelles Verbot für den Einsatz von versteckten Kameras. Der zweite Grund für die Themenwahl war, dass ich intellektuell Lust hatte, die Bedeutung meines Berufs zu. Und da ich eine Vorliebe für Geschichte habe, die ich an der Universität studiert hatte, begann ich mit einer Doktorarbeit.

Bei der Lektüre Ihrer Dissertation, hat man den Eindruck, dass die angelsächsischen Medien die Vorreiter bei der Verwendung der versteckten Kamera waren. Trifft das zu?

– Dies trifft nicht auf den Undercover-Journalismus zu, der in gewisser Weise der Vorläufer der versteckten Kamera ist. Bereits im 19. Jahrhundert verstellten oder verkleideten sich Journalisten, um verborgene Informationen aufzudecken, sowohl in Frankreich wie auch in der angelsächsischen Welt. Es stimmt jedoch, dass mit dem Aufkommen des Fernsehens die Pioniere der Verwendung der versteckten Kamera in Grossbritannien und den USA zu finden sind. In Frankreich und auch in der Schweiz gab es sehr schnell ein Verbot. Die Gesetze untersagten die Verwendung von versteckten Kameras, um das Recht auf Privatsphäre und Geheimhaltung zu schützen. Die Frage des überwiegenden öffentlichen Interesses, das, wenn es erwiesen ist, den Einsatz eines solchen Mittels rechtfertigen können muss, wird in der Debatte praktisch nicht erwähnt. Dies, obwohl sie in Grossbritannien seit Ende der 1960er Jahre sehr präsent ist. Ausserdem existierte vor den 1980er Jahren die Idee des investigativen Journalismus im französischsprachigen Raum kaum – mit der bemerkenswerten Ausnahme des Canard Enchaîné –, während sie in den USA seit Anfang des 20. Jahrhunderts lebendig ist. Als ich Ende der 1980er Jahre mit dem Journalismus begann, konnte man die investigativen Journalisten in der Schweiz beinahe noch an einer Hand abzählen.

 – Woher kam diese helvetische Zurückhaltung?

Man darf den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmen nicht ausser Acht lassen. In den USA drückt der erste Zusatzartikel zur Verfassung («First Amendment») ein grosses Bestreben aus, die Freiheit der Journalisten eng mit der Gesundheit einer Demokratie zu verknüpfen. In Grossbritannien spielt paradoxerweise der ungebremste wirtschaftliche Wettbewerb, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht, eine entscheidende Rolle für die Freiheit der Journalisten: Die Herausgeber der grossen Zeitungen sind sehr mächtig, und kein Hemmnis darf ihren Wettbewerb untereinander einschränken. Nachteilig ist zwar die Entwicklung einer ungebremsten Boulevardpresse, aber der Vorteil ist, dass Fernsehjournalisten die gleiche Freiheit zur Undercover-Recherche beanspruchten, die den Printmedien zugestanden wurde.

Frankreich stand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange Zeit unter der Herrschaft eines sehr autoritären Gaullismus, zumindest am Ende. Was die Schweiz betrifft, so möchte ich das Motto des Canard Enchaîné zitieren: «Die Pressefreiheit geht nur verloren, wenn man sich ihrer nicht bedient.» Die Journalisten in der Schweiz haben von dieser Freiheit wenig Gebrauch gemacht. Weshalb? Ich habe keine definitive Antwort. Ist es unsere atavistische Kultur der Diskretion und Geheimhaltung, der Puritanismus? Auf jeden Fall ist der Umgang mit der Idee der Transparenz in unserem Land sehr, sehr zurückhaltend. Was die versteckte Kamera betrifft, stelle ich eine Art Anachronismus in der Schweiz fest, eine Diskrepanz zum weltweiten Trend zu mehr Transparenz, insbesondere dank der Whistleblower. Und wir sind noch nicht weitergekommen Ich sehe noch grosse juristische Kämpfe, die wir führen müssen. Schweizer Fernsehen SRF hat dies seinerzeit im Fall der versteckten Kamera beim Kassensturz getan, aber es gibt heute noch einen weiteren Kampf: denjenigen gegen die Anwendung des Strafrechtsartikels über das Bankgeheimnis auf Journalisten, die gestohlene Bankdaten veröffentlichen. Er muss geführt werden.

In den 1960er Jahren hat sich der stellvertretende Direktor der BBC, Oliver Whitley, für die Verwendung versteckter Kameras eigesetzt, gleichzeitig aber eingeräumt, dass der Einsatz von versteckten Kameras «to skate on dangerously thin ice». Diese Formulierung verwenden Sie als Titel Ihrer Dissertation. Die Gefahr des Missbrauchs ist real, oder?

– Das bestreite ich nicht. Die Gefahr besteht darin, dass die versteckte Kamera dauernd eingesetzt wird – weil sie die Einschaltquoten erhöht –, ohne dass ihr Einsatz durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Es braucht einen strikten Rahmen. Sonst gerät man in ein Missverhältnis zwischen dem eingesetzten Mittel und den enthüllten Tatsachen und schiesst am Ende mit Kanonen auf Spatzen. Der Konsumjournalismus in den USA ist manchmal in diese Falle getappt. Es besteht die Gefahr des Voyeurismus, aber man muss sich über dieses Wort im Klaren sein, denn die Neugier der Öffentlichkeit zu befriedigen, ist das Wesen des Journalismus. Das wohl krasseste Beispiel für die möglichen Auswüchse war die Sendung To Catch a Predator in den USA. Dabei handelte es sich um eine Reality-Show, bei der sich Journalisten als Minderjährige ausgaben und Pädophile in ein mit Mikrofonen und Kameras gespicktes Haus lockten. Die Polizei wurde vorher benachrichtigt und die Verhaftungen wurden gefilmt. Die Sendung wurde eingestellt, nachdem sich einer der Protagonisten vor laufender Kamera das Leben genommen hatte.

Ich selbst habe eine versteckte Kamera in einem Bordell in Lausanne eingesetzt. Es handelte sich um eine Story von Temps Présent, Sex is money, bei der es um Prostitution ging. Die Sequenz aus dem Bordell bildete den Auftakt. Ich gebe heute zu, dass sie nicht notwendig war. Es war eine sehr gute Illustration, die Frauen waren nicht erkennbar, aber die Sequenz ist unangenehm. Wir hätten es anders machen können.

– Die versteckte Kamera ist auch ein wirksames Mittel, um Menschen zum Lachen zu bringen. Was hat das Verbergen zu Unterhaltungszwecken mit dem Verbergen aus investigativen Gründen zu tun?

– Es sind unterschiedliche Fernsehdispositive, sie haben jedoch Reality-TV als Überschneidung. Ein gutes Beispiel für diese Überscheidung ist die Sendung Undercover Boss, die in den USA ausgestrahlt wird. Sie ist eine Adaption einer britischen Sendung und läuft derzeit in der französischen Version unter dem Titel Patron incognito auf M6. Dabei wird der Chef eines grossen Unternehmens mit versteckter Kamera in seine eigene Firma eingeschleust. Es ist ein spannendes soziales Experiment, und der Chef wird am Ende gefragt, was er festgestellt hat. Ein solcher Einsatz der versteckten Kamera ist gleichzeitig unterhaltsam und lehrreich. Um die aktuellen Debatten über die Definition von Geschlechtern und die Beziehungen zwischen ihnen zu veranschaulichen, plant Temps Présent, acht Personen unterschiedlicher Geschlechter in mit Kameras ausgestatteten Räumen zusammenzubringen. Die Teilnehmer wissen das zwar, aber wir glauben, dass das Experiment interessante Dinge ans Licht bringen wird.

Wird die Digitalisierung und das darin enthaltene Risiko der Manipulation nicht das Ende der versteckten Kamera bedeuten? Sie beruht ja auf der Idee, dass Bilder nicht lügen.

– Ich würde vorher eine andere Frage stellen: Wird es noch notwendig sein, auf die versteckte Kamera zurückzugreifen, wenn es weltweit fünf Milliarden Mobiltelefone gibt, mit denen man praktisch alles jederzeit filmen kann? Was sich durch die Digitalisierung nicht ändern wird, ist die Rolle der Journalisten, die darin besteht, Bilder zu überprüfen und zu kontextualisieren. Nehmen wir als Beispiel die Gräueltaten in Butscha in der Ukraine. Die New York Times hatte vier Quellen: Satellitenbilder, Bilder, die von Internetnutzern vor Ort aufgenommen und über soziale Netzwerke verbreitet wurden, Überwachungskameras und Zeugenaussagen, die vor Ort gesammelt wurden. Das ist in meinen Augen der investigative Journalismus der Zukunft.

– Wenn du eine Sendung nennen müsstest, die den Einsatz einer versteckten Kamera rechtfertigt, welche würdest du wählen? 

– Es handelt sich um eine Temps Présent –Sendung, die mich sehr beeindruckt hat: «Les vieux ont-ils des têtes à claques?» («Haben die Alten Ohrfeigengesichter?») Das war 1997. Temps Présent hatte Bilder verwendet, die Mitarbeiter eines Altersheims heimlich aufgenommen hatten, und die zeigten, wie alte Menschen gefesselt wurden. Die Sendung führte aus verschiedenen Gründen zu sehr starken internen Spannungen. Dennoch haben diese Bilder die Westschweiz sehr schockiert und eine Flut von Reaktionen, Presseartikeln, eine Debatte im Waadtländer Grossen Rat und eine Untersuchungskommission ausgelöst. All dies führte zu erheblichen Verbesserungen bei der Betreuung von Pflegeheimbewohnern. Und wir sprechen hier von den Bildern eines eineinhalb Minuten dauernden Films! Ich denke, sie haben unseren Blick auf Pflegeheime verändert. Interessant wäre es nun zu untersuchen, welche Wirkung die Bilder mit versteckter Kamera haben, um zu sehen, was sie verändert haben.

Interview: Denis Masmejan, Generalsekretär von RSF Schweiz

 Jean-Philippe Ceppi: «Glisser sur une glace dangereusement fine» – La caméra cachée en journalisme de télévision, France, Etats-Unis, Grande-Bretagne, Suisse (1960-2015) (erscheint demnächst).

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