Es war am Samstag, dem 18. November 2023: An diesem Tag sollte die turkmenische Fotojournalistin Soltan Achilova einen Flug in die Schweiz nehmen. Sie wurde an der Universität Genf erwartet, wo sie am darauffolgenden Dienstag an einer der Veranstaltungen der Semaine des droits humains (Menschenrechtswoche) teilnehmen sollte, die jedes Jahr von der Genfer Hochschule organisiert wird. Achilova kam nie an. Die Behörden hinderten sie und ihre Tochter am Flughafen von Aschgabat daran, das Flugzeug zu besteigen, und beschädigten ihren Reisepass, um ihn unbrauchbar zu machen.
Cristina Rendon war die treibende Kraft dahinter, dass Soltan Achilova in die Schweiz kam. Sie ist Programmbeauftragte bei der Fondation Martin Ennals in Genf, einer Organisation, die für den Preis bekannt ist, den sie jedes Jahr an Menschenrechtsverteidiger vergibt. Achilova war eine der beiden Finalist*innen des Preises im Jahr 2021.
Alle Bemühungen von Cristina Rendon, zusammen mit denen der Universität Genf selbst, blieben erfolglos. Achilova konnte ihr Land nicht verlassen. Es war das zweite Mal, dass Turkmenistan, eines der am stärksten gegen die Informationsfreiheit gerichteten Regimes der Welt, ihr das Recht zu reisen verweigerte. Bereits 2019 war sie mit einem Ausreiseverbot belegt worden, als sie nach Tiflis reisen sollte, um an einem internationalen Seminar teilzunehmen. Reporter ohne Grenzen verurteilte damals das nicht tolerierbare Verhalten der turkmenischen Behörden. Auch nach der Verhinderung der Reise Achilovas nach Genf, nahm RSF Stellung und sprach seine volle Unterstützung für Achilova aus, die eine der sehr wenigen Medienschaffenden Turkmenistans ist, denen es gelingt, mit unabhängigen Medien zusammen zu arbeiten, die alle aus dem Ausland operieren.
In Absprache mit der Schweizer Sektion von RSF – der Autor dieser Zeilen sollte die Diskussion mit Achilova an der Universität moderieren – wurde die geplante Veranstaltung in Genf trotzdem durchgeführt: eine Art Hommage an eine Abwesende. Der aus Wien angereiste Aktivist Farid Tuhbatullin, Vorsitzender der Turkmen Initiative for Human Rights und ein enger Vertrauter Achilovas, war bereit, als Sprachrohr seiner Landsfrau zu fungieren, indem er sich bemühte, die Fragen, die an die Fotojournalistin gerichtet werden sollten, so zu beantworten, als wäre er an ihrer Stelle.
Sehen Sie hier die Aufzeichnung der Veranstaltung
Es ist ein spezielles Schicksal, das Soltan Achilova erlebt hat. Sie kam erst spät, 2008, im Alter von 58 Jahren, zum Journalismus und zur Fotoreportage. Zuvor hatte sie ein anderes Leben geführt, war ausgebildete Wirtschaftswissenschaftlerin und Buchhalterin und Mutter von fünf Kindern. Dann beschlossen die Behörden eines Tages, ihr Haus abzureissen. Sie wehrte sich vehement dagegen, versuchte alles, um sich zu verteidigen, und erzählte schliesslich einem oppositionellen Radiosender, was mit ihr geschah.
In diesem Moment fand sie ihre Berufung als Journalistin. Ab nun dokumentierte sie das Alltagsleben und die Probleme, die die Menschen in ihrem Alltag hatten. Doch auch die Schwierigkeiten begannen sehr schnell. Mehrmals wurde Achilova eingeschüchtert, bedroht, angegriffen und verhaftet. Spuren davon finden sich in den Archiven von Reporter ohne Grenzen. Am 25. Oktober 2016 zum Beispiel wurde sie von einem Polizisten und dem Geschäftsführer eines Supermarkts vertrieben, als sie eine lange Warteschlange fotografierte.
Als sie am selben Tag ein Krankenhaus aufsuchte, wurde sie von zwei Polizisten in Zivil angehalten, die sie mehrere Stunden lang auf offener Strasse verhörten und sie über ihre Familie und ihren Wohnort ausfragten. Als sie schliesslich wieder gehen konnte, wurde sie von vier Unbekannten angegriffen, beleidigt und beraubt. Sie kehrte unter Schock nach Hause zurück. Als sie im nächsten Monat erneut ins Krankenhaus ging, wurde sie von zwei Frauen angegriffen, die ihr vorwarfen, Turkmenistan durch den Schmutz zu ziehen. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, erfuhr sie, dass eine ihrer Nachbarinnen von zwei Männern verprügelt worden war, die ihr zuriefen: «Das ist dafür, dass du Fotos gemacht hast» – und dabei offensichtlich das falsche Ziel anvisierten.
Wir hätten gerne gehört, was sie an diesem Dienstag, dem 21. November 2023, in Genf erzählt hätte, woher sie den Mut nahm und immer noch nimmt, um trotz Angst und dem ständigen Druck der Behörden weiterzumachen. Wir hätten sie gerne gefragt, ob sie ihr früheres Leben, als sie noch nicht Journalistin war, zurückwünscht – ohne übrigens an ihrer Antwort zu zweifeln.
Farid Tuhbatullin, der sich an die Regeln dieser Diskussion in abstentia hielt, war bereit, auf diese Frage seine Meinung zu äussern: Er ist überzeugt, dass Achilova ihr früheres Leben nicht vermisst. Sie hat in ihrer Arbeit als Journalistin einen Sinn gefunden, und das gibt ihr die Kraft, weiterzumachen.
Im Jahr 2023 belegte Turkmenistan auf der jährlich von RSF veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit den 176. Platz von 180 Ländern. Es ist eines der am stärksten abgeschotteten Länder der Welt, was die Pressefreiheit angeht. Es überrascht nicht, dass die Bevölkerung keinen freien Zugang zum Internet hat. Kritik an den Machthabern ist verboten, da Journalistinnen und Journalisten ein positives Bild des Landes zeichnen müssen. Die Medien werden alle vom Staat kontrolliert. Die einzigen unabhängigen Medien – darunter auch die, für die Achilova arbeitet – operieren aus dem Ausland.