Larissa M. Bieler ist Direktorin und Chefredaktorin von SWI swissinfo.ch (Foto Keystone-SDA). Sie erklärt im Interview, was die Zertifizierung nach den Standards der Journalism Trust Initiative (JTI) für Ihr Medium bedeutet. Und sie gibt Auskunft darüber, welche Konsequenzen der Krieg in der Ukraine und die Verschärfung der Gesetze für Medien in Russland für die russischsprachige Plattform von SWI swissinfo.ch hat.

RSF Schweiz: Als erstes Medium in der Schweiz hat SWI swissinfo.ch das «Journalism Trust»-Label (JTI) erhalten. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden?

– Larissa M. Bieler: Eine der grössten Erwartungen von jungen Menschen an Medien ist, dass Qualität rasch identifiziert und von Fake News unterschieden werden kann. Das zeigen Studien, das hat die SRG aber auch in einer eigenen Umfrage im Dialog mit dem Publikum erhoben. Die JTI ist mehr als einfach ein Qualitätslabel, in Kooperation mit Tech-Unternehmen sollen Fake News für Menschen und Maschinen künftig rascher identifizierbar gemacht werden. Anders ausgedrückt: Vertrauenswürdiger Journalismus muss sich eindeutiger von Fake News differenzieren; JTI macht dies möglich. Zum ersten Mal wurden zudem internationale Qualitätsstandards geschaffen, im Zentrum steht dabei auch die Transparenz. Die Initiative ist neu und wurde von Reporter ohne Grenzen (RSF) angestossen, mit deren Partner Agence France-Presse (AFP) und  European Broadcasting Union (EBU).

– War es schwierig, die JTI-Standards einzuführen? Gab es grosse Veränderungen deswegen?

– Veränderungen in den Workflows gab es nicht, unsere internen Qualitätsprozesse sind bereits mehrstufig. Aber wir mussten transparenter werden, beispielsweise mehr Informationen über unsere Organisation und unsere Qualitätsstandards transparent machen. Wer zertifiziert werden möchte, muss sich einer aufwändigen und detaillierten Prüfung von externer Seite unterziehen. Das ist ein wertvoller Prozess. Wir konnten auch Vorgaben und Leitlinien schärfen oder ergänzen und hoffen nun auf möglichst viele Nachahmer:innen, damit Desinformationen zunehmend von Suchmaschinen depriorisiert werden. Für die Nutzer:innen liegt der Mehrwert zudem auch in der Standardisierung der journalistischen Qualität, sie wird besser fassbar.

– Gibt es wichtige Tipps, die Sie anderen Medien, die sich für das JTI-Label interessieren, geben können?

– Jedes Medium, sei es auch noch so klein, hat die Möglichkeit, JTI umzusetzen und so den Kampf gegen Fake News zu unterstützen.

– Wie hat die Swissinfo-Redaktion darauf reagiert? Und was bedeutet das für den Arbeitsalltag?

– SWI swissinfo.ch ist stolz darauf, als erstes Schweizer Medium mit dem JTI-Zertifikat ausgewiesen zu sein. Das Verfahren wird im Zweijahresrhythmus wiederholt, aus selbsterklärenden Gründen: Die journalistische Produktion wird immer wieder einer grundlegenden Prüfung unterzogen und kann so qualitativ hochgehalten werden. Es wird ja nicht die Qualität einzelner Inhalte überprüft, sondern die Prozesse und Workflows.

– Gibt es im Zusammenhang mit dem JTI-Label noch etwas, das für SWI swissinfo.ch wichtig ist?

– Nebst den Kriterien von JTI arbeiten wir mit komplexen internen Prozessen und leben eine Haltung und Arbeitsethik entlang den Sorgfaltskriterien sowie den ethischen und publizistischen Leitlinien. Als Service Public Anbieter richten wir uns nach den Qualitätskriterien der SRG und setzen auf Relevanz, Professionalität, Unabhängigkeit, Vielfalt und Zugänglichkeit. Die Kür von SWI swissinfo.ch geschieht durch das multinationale, multikulturelle und mehrsprachige Team, das in zehn Sprachen Inhalte für unterschiedlichste Publika konzipiert, kontextualisiert und adaptiert.

– SWI swissinfo.ch bietet ja auch einen Dienst in Russisch an. Offenbar ist die Zahl derer, die ihn nutzen, seit dem Krieg in der Ukraine stark gestiegen. Wie stark?

– Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat sich bei der russischsprachigen Plattform von SWI swissinfo.ch die Nutzung mehr als verdreifacht. Wo wir bis anhin wöchentlich rund 50’000 Nutzer:innen gemessen haben, waren es in der Kalenderwoche 10 fast 180’000 Nutzer:innen pro Woche. Jetzt sind wir bei etwas über 110’000, also bei doppelt so vielen wie üblich.

Die Mehrheit, 27 Prozent, kommen aus der Ukraine. Weitere 23 Prozent der Aufrufe stammen von russischen Nutzer:innen. Auf die Schweiz entfallen 16 Prozent der Besuche, weitere 4 Prozent kommen aus Polen und Deutschland. Auf unserem wichtigsten Social-Media-Kanal, V-Kontakte, haben wir rund 23’000 Follower. Auf dieser Plattform kommen neun von zehn Nutzern aus Russland. Auf unserer Facebook-Seite in russischer Sprache haben wir 74’000 Follower erreicht. Auf Twitter sind es 1’600 Follower und auf Instagram 5.000.

Die Angebote in Russisch sind, wenn sie nicht direkt in Russisch erstellt worden sind, für das Russisch sprechende Zielpublikum adaptiert. Das bedeutet, dass die Kontextualisierung und Einordnung auf kulturelle und politische wie sprachliche Besonderheiten der Zielgruppe Rücksicht nimmt. SWI swissinfo.ch bietet regelmässig zu spezifischen Themen – auch für das Russisch sprechende Publikum – mehrsprachige Debatten an. Diese werden in allen zehn Sprachen automatisch übersetzt und in der von der Leserschaft bevorzugten Sprache angezeigt. Für Russisch sprechende Menschen eine gute Möglichkeit, sich mit Menschen aus der ganzen Welt auszutauschen und auch ihre Perspektive zu teilen.

– Auf welchen Wegen/Vektoren kommen Russ:innen zu SWI swissinfo.ch?

– Unsere Seiten sind in Russland immer noch erreichbar. Über V-Kontakte VK, der Social-Media-Plattform Nummer 1 in Russland, erreicht SWI swissinfo.ch zudem rund 23’000 Nutzer:innen.

– In Russland mussten unabhängige Medien schliessen, der Zugang zu sozialen Netzwerken wurde gekappt, und den verbleibenden Medien drohen drastische Strafen für die «Verbreitung falscher Informationen». Die Medien dürfen gewisse Bezeichnungen nicht mehr verwenden; sie müssen anstatt von «Krieg» oder von der «Invasion» in der Ukraine von einer «Spezialoperation» in der Ukraine schreiben oder sprechen. Hat das Konsequenzen für den russischen Dienst von SWI swissinfo.ch? Müssen Texte, die beispielsweise via das russische Netzwerk V-Kontakte VK verbreitet werden, angepasst werden?

– Nein, SWI swissinfo.ch muss seine Texte nicht anpassen, wir sind journalistisch unabhängig. Wir bewerten oder mischen uns nicht ein, wir führen keinen Informationskrieg, mit unserem Journalismus bieten wir eine Schweizer Perspektive auf den Krieg. Wir haben uns in der Chefredaktion auf einen Sprachgebrauch geeinigt und vermeiden Begriffe, die den Ernst der Lage herabsetzen, wie «Konflikt» oder «Krise». Und wir verwenden keine russische Rhetorik. Infolgedessen sprechen wir nicht von einer «speziellen Militäroperation» oder «Entnazifizierung», sondern von «Krieg», «russischer Invasion» oder «russischem Angriff».

– Welche Konsequenzen haben die russischen Zensurmassnahmen sonst noch für SWI swissinfo.ch?

– Derzeit beschäftigt uns vor allem die Repression und die Sicherheit unserer eigenen Journalist:innen in Bern und freien Mitarbeiter:innen vor Ort. Die neue Rechtsprechung in Russland sieht drastische Strafen für Kritik vor. Betroffen sind alle Inhalte, die in Russisch publiziert werden. Hierfür haben wir eine interne Task-Force gebildet und bereits Massnahmen ergriffen. Bisher sind uns auch keine Fälle von Repression gegenüber Mitarbeitenden von SWI bekannt. Die Situation ist für uns nicht gänzlich neu, wir berichten auch in China und stehen dort vor ähnlichen Herausforderungen.

– Welche Rolle kann ein Angebot wie der russische Dienst von SWI swissinfo.ch in einer Situation wie die aktuelle spielen?

– Der freie Zugang zu Informationen ist ein Menschenrecht, ebenso jener, seine Meinung frei zu äussern. SWI swissinfo.ch publiziert im Rahmen seines Auftrages Beiträge aus Schweizer Perspektive zum Weltgeschehen. Mit unserer unabhängigen, ausgewogenen und faktenbasierten Information leisten wir einen Beitrag für alle Russisch sprechenden Menschen, die sich zum Thema Krieg in der Ukraine aus Schweizer Sicht informieren wollen. Wir leisten also einen direkten Beitrag zur freien Meinungsbildung und sind zurzeit auch in Russland noch zugänglich. Unsere Präsenz bauen wir aus, beispielsweise mit dem soeben neu eröffneten Telegram-Kanal in Russisch.

Unsere Rolle unterscheidet sich vor dem Hintergrund des Krieges nicht. Unsere multilingualen Debatten machen zudem einen internationalen Dialog möglich und bringen die Welt an einen Tisch. Die direkte Übersetzung macht es möglich, dass Nutzer:innen aus 10 verschiedenen Sprachen alle Beiträge und Antworten in der von ihnen bevorzugten Sprache angezeigt bekommen.

Wenn der Schweizer Bundespräsident Cassis sagt, dass «einem Aggressor in die Hände zu spielen keine Neutralität ist», dann berichten wir darüber auch. Wir erklären, was aus der Schweizer Neutralität geworden ist. Wir berichten über die Welle der Solidarität, die sich in der Schweiz zur Unterstützung der Ukraine erhoben hat. Wir berichten darüber, was zum Beispiel mit dem Handel mit russischen Rohstoffen in der Schweiz geschieht, über die Energiefrage. Europäische Sicherheitsthemen oder Fragen zu Nuklearwaffen kontextualisieren wir aus Schweizer Sicht. Unsere russischsprachigen Journalisten verfügen zudem über ein einzigartiges Fachwissen über Russland. Schweizer Medien wenden sich aktuell oft an uns mit der Bitte, die Vorgänge in ausgewogener und faktenbasierter Weise zu erläutern.

Weltweit sprechen über 250 Millionen Menschen Russisch. Der Zugang zu Information und die freie Meinungsbildung sind Menschenrechte. SWI swissinfo.ch leistet mit seinem unabhängigem, ausgewogenen Qualitätsjournalismus dazu einen Beitrag für diese potentielle Gruppe.

Larissa M. Bieler ist Direktorin und Chefredaktorin von SWI swissinfo.ch. Sie hat lange als freie Journalistin gearbeitet und war dann ab 2013 Chefredaktorin des «Bündner Tagblatts». Anfang 2016 wurde sie Chefredaktorin von SWI swissinfo.ch, seit Oktober 2018 ist sie zusätzlich auch noch Direktorin.

SWI swissinfo.ch ist die zehnsprachige digitale Nachrichten- und Informationsplattform der SRG. Sie berichtet über aktuelle Themen und Ereignisse; im Zentrum stehen Informationen zur Schweiz. An der Schweiz interessierte Menschen im Ausland und Auslandschweizer:innen bilden das Zielpublikum. SWI swissinfo.ch ging 1999 aus dem Schweizer Radio International (SRI) hervor, das 1935 gegründet worden war. 

Bettina Büsser, Koordinatorin RSF Schweiz für die Deutschschweiz 

Das Interview wurde schriftlich geführt

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