Die 21. Ausgabe der Rangliste der Pressefreiheit, die jährlich von Reporter ohne Grenzen (RSF) erstellt wird, beleuchtet die grossen und oft radikalen Veränderungen in Verbindung mit politischen, sozialen und technologischen Umbrüchen.

Die am Welttag der Pressefreiheit (3. Mai) veröffentlichte Rangliste der Pressefreiheit 2023 bewertet das Umfeld für den Journalismus in 180 Ländern und Gebieten. Das Resultat: Die Situation ist in 31 Ländern «sehr ernst», in 42 «schwierig», in 55 Ländern gibt es «erkennbare Probleme», und in 52 Ländern ist die Situation «gut» oder «ziemlich gut». Mit anderen Worten: In sieben von zehn Ländern ist das Umfeld für den Journalismus problematisch bis schlecht, und nur in drei von zehn Ländern ist es zufriedenstellend bis gut.

Die Schweiz verbessert sich leicht von Platz 14 auf Platz 12, aber die Bewertung im Bereich «rechtlicher Rahmen» verschlechtert sich weiter, hier fällt die Schweiz von Platz 29 auf Platz 37. Die Gründe dafür die Verschärfung des Gesetzes über «vorsorgliche Massnahmen», die von Zivilgerichten gegen die Medien erlassen werden können, und Artikel 47 des Bankengesetzes, der Medienschaffende, die gestohlene Bankdaten für ihre Recherchen verwenden, mit Gefängnisstrafen bedroht.

Lesen Sie hier unsere Analyse der Lage in der Schweiz

Norwegen liegt zum siebten Mal in Folge auf dem ersten Platz. Ungewöhnlich ist jedoch, dass ein nicht-nordisches Land den zweiten Platz belegt, nämlich Irland (plus 4 Plätze), vor der drittplatzierten Dänemark (minus 1 Platz). Die Niederlande liegen auf Platz 6 und haben sich um 22 Plätze verbessert. Damit liegen sie wieder auf der Position von 2021 – die Ermordung des Kriminalreporters Peter R. de Vries im Juli 2021 hatte das Land danach weit zurückfallen lassen.

Auch am unteren Ende der Rangliste gibt es Veränderungen. Die letzten drei Plätze werden nun ausschliesslich von asiatischen Ländern eingenommen: In China sind weltweit die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert; das Land ist einer der grössten Exporteure von Propagandainhalten, hat vier Plätze verloren und liegt auf Platz 178. Vietnam, das seine Jagd auf unabhängige Medienschaffende fast abgeschlossen hat verbleibt auf Platz 178. Am Ende der Rangliste, auf Platz 180, liegt nach wie vor Nordkorea.

«Die Rangliste zeigt eine enorme Volatilität der Situationen, mit grossen Sprüngen nach oben wie nach unten und noch nie dagewesenen Veränderungen. So etwa das Vorrücken Brasiliens um 18 Plätze und den Absturz Senegals um 31 Plätze. Diese Instabilität ist das Ergebnis einer zunehmenden Aggressivität der Behörden in vielen Ländern und einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber Journalistinnen und Journalisten in den sozialen Medien und in der realen Welt. Die Volatilität ist auch die Folge des Wachstums der Fake-Content-Industrie, die Desinformationen produziert und verbreitet und die Werkzeuge zu deren Herstellung bereitstellt.»                                                                                         Christophe Deloire, Generalsekretär von RSF

Die Auswirkungen der Industrie für Fake-Content

Die Rangliste 2023 verdeutlicht die Auswirkungen, die die Fake-Content-Industrie im digitalen Ökosystem auf die Pressefreiheit hatte. In 118 Ländern gaben die meisten Expertinnen und Experten, die den Fragebogen ausfüllten, an, dass politische Akteure in ihren Ländern häufig oder systematisch in massive Desinformations- oder Propagandakampagnen involviert sind.

Die Feststellung betrifft also zwei Drittel der 180 Ranglisten-Länder. Der Unterschied zwischen wahr und falsch, echt und künstlich, Fakten und Fakes wird verwischt, das Recht auf Information ist in Gefahr. Die beispiellose Möglichkeit, Inhalte zu manipulieren, wird genutzt, um diejenigen zu schwächen, die für den Qualitätsjournalismus stehen. Gleichzeitig wird so der Journalismus selbst geschwächt.

Die spektakuläre Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) erschüttert die bereits beeinträchtigte Medienwelt, die schon durch das Web 2.0 in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der Besitzer von Twitter, Elon Musk, treibt seinerseits die Logik der Willkür und Zensur auf die Spitze und zeigt, dass die Plattformen für den Journalismus wie Treibsand sind. Die Desinformationsindustrie verbreitet in grossem Stil manipulative Inhalte, wie eine Untersuchung des Konsortiums «Forbidden Stories», eines von RSF mitbegründeten Projekts, zeigt. Und die KI verdaut Inhalte und erstellt Zusammenfassungen, die jeglicher Gründlichkeit und Zuverlässigkeit Hohn sprechen.

Die fünfte Version von Midjourney, einem KI-Programm, das als Reaktion auf Anfragen in natürlicher Sprache hochauflösende Bilder generiert, ist zu einem der beliebtesten Tools der Welt geworden; es versorgt die sozialen Netzwerke mit immer mehr gefälschten «Fotos». Darunter sind etwa recht realistisch aussehende Bilder von Donald Trump, der von Polizisten festgenommen wird, und von Julian Assange in einer Zwangsjacke, die viral gingen.

Propagandakrieg

Der Nährboden war günstig für eine Zunahme der Propaganda Russlands (Platz 164), das in der Rangliste 2023 um weitere neun Plätze zurückgefallen ist. In Rekordzeit hat Moskau ein neues Medienarsenal aufgebaut, um die Botschaft des Kremls in den besetzten Gebieten in der Südukraine zu verbreiten. Gleichzeitig geht Russland härter denn je gegen die letzten im Land verbliebenen unabhängigen Medien vor; sie wurden verboten, gesperrt und/oder zu «ausländischen Agenten» erklärt. Russlands Kriegsverbrechen in der Ukraine (Platz 79) trugen dazu bei, dass dieses Land im Bereich Sicherheit eines der schlechtesten Ergebnisse erzielte.

Auf- und Abstiege

Die USA (Platz 45) sind um drei Plätze zurückgefallen. Die für die Rangliste Befragten in den USA äusserten sich trotz des guten Willens der Biden-Administration negativ über das Umfeld für Medienschaffende, insbesondere, was rechtlichen Rahmen auf lokaler Ebene und die weit verbreitete Gewalt betrifft. Die Ermordung von zwei Journalisten (Jeff German vom Las Vegas Review Journal im September 2022 und Dylan Lyons von Spectrum News 13 im Februar 2023) wirkte sich negativ auf die Position in der Rangliste aus.

Brasilien (Platz 92) verbesserte sich um 18 Plätze, da Jair Bolsonaro, dessen Amtszeit von extremer Feindseligkeit gegenüber Journalisten geprägt war, abtrat und die Wahl von Lula da Silva eine Verbesserung einleitete. Ebenfalls durch Regierungswechsel verbessert hat sich das Umfeld für die Medien in Australien (plus 12 Plätze, Platz 27) und Malaysia (plus 40 Plätze, Platz 73).

In drei Ländern hat sich die Situation von «schwierig» auf «sehr ernst» verschlechtert, in Tadschikistan (minus 1 Platz, Platz 153), Indien (minus 11 Plätze, Platz 161) und der Türkei (minus 16 Plätze, Platz 165). In Indien gefährden Medienübernahmen durch Oligarchen, die Premierminister Modi nahestehen, den Pluralismus. In der Türkei hat die Erdogan-Regierung im Vorfeld der Wahlen am 14. Mai die Verfolgung von Journalisten verschärft. Im Iran (Platz 177) hat die Unterdrückung der Bewegung, die durch den Tod der Studentin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam ausgelöst wurde, die Werte der Indikatoren «soziokulturelles Umfeld» und «rechtlicher Rahmen» sinken lassen.

 

Einige der grössten Rückgänge der Rangliste 2023 sind in Afrika zu verzeichnen. Senegal (Platz 104), bis vor kurzem noch ein regionales Vorbild, ist um 31 Plätze zurückgefallen, vor allem wegen der strafrechtlichen Verfolgung der beiden Journalisten Pape Alé Niang und Pape Ndiaye und der starken Verschlechterung der Sicherheitslage für Medienschaffende. Im Maghreb verlor Tunesien (Platz 121) unter Präsident Kais Saïed, der sich zunehmend autoritär und intolerant gegenüber Pressekritik zeigt, 27 Plätze. In Lateinamerika ist Peru (Platz 110) um 33 Plätze zurückgefallen, weil die Medienschaffenden für die anhaltende politische Instabilität teuer bezahlen und unterdrückt, angegriffen und wegen ihrer Nähe zur politischen Elite diskreditiert werden. Auch Haiti (Platz 99) verlor 29 Plätze, weil sich die Sicherheitslage ständig verschlechtert.

Die Rangliste nach Regionen

 

Europa, insbesondere die Europäische Union, ist die Region der Welt, in der es für Journalistinnen und Journalisten am einfachsten ist zu arbeiten. Aber auch dort ist die Situation uneinheitlich. Deutschland (Platz 21), wo eine Rekordzahl von Fällen von Gewalt gegen Medienschaffende und Verhaftungen verzeichnet wurde, ist um fünf Plätze zurückgefallen. In Polen (Platz 57) war das Jahr 2022 in Bezug auf Informationsfreiheit relativ ruhig; das Land stieg in der Rangliste um neun Plätze auf. Aufgestiegen – um zwei Plätze – ist auch Frankreich (Platz 24). Griechenland (Platz 107), wo Journalistinnen und Journalisten von den Geheimdiensten und mit leistungsstarker Spyware überwacht wurden, hat weiterhin den schlechtesten Wert in der EU. Das Ergebnis für die Region Europa-Zentralasien wird weitgehend durch das schlechte Abschneiden Zentralasiens beeinträchtigt. Mehrere dieser Länder – Kirgisistan (minus 50 Plätze, Platz 122), Kasachstan (minus 12 Plätze, Platz 134) und Usbekistan (minus 4 Plätze, Platz 137) – sind wegen der gestiegenen Zahlen von Angriffen auf Medien zurückgefallen. Turkmenistan (Platz 176) schliesslich, wo Zensur und Überwachung nach der Wahl von Serdar Berdimuhamedow, dem Sohn des scheidenden Präsidenten, zum Präsidenten im März 2022 erneut verschärft wurden, gehört immer noch zu den fünf Schlusslichtern der Rangliste.

In der Region Amerika gibt es kein Land mehr, das auf der Karte der Pressefreiheit grün eingefärbt ist. Costa Rica (minus 15 Plätze, Platz 23) war das letzte Land in der Region, dessen Situation als «gut» eingestuft wurde. Doch aufgrund eines starken Rückgangs seiner Bewertung im Bereich «politischer Kontext» ist das Land um fünf Plätze zurückgefallen und nun schlechter eingestuft als Kanada (minus 4 Plätze, Platz 15). Mexiko (Platz 128) verliert in diesem Jahr einen weiteren Platz; das Land weist die meisten verschwundenen Medienschaffenden der Welt aus: 28 in den letzten 20 Jahren. Kuba (Platz 172), wo die Zensur wieder verschärft wurde und die Presse nach wie vor ein staatliches Monopol ist, belegt wie schon 2022 den letzten Platz in der Region.

Auch wenn in Afrika einige bedeutende Verbesserungen zu verzeichnen sind, wie etwa in Botswana (Platz 65), das um 35 Plätze aufgestiegen ist, ist die Ausübung des Journalismus auf dem Kontinent insgesamt schwieriger geworden: Die Situation wird nun in fast 40 Prozent der Länder als «schwierig» eingestuft (gegenüber 33 Prozent im Jahr 2022). Dies gilt etwa für Burkina Faso (Platz 58), wo internationale Fernsehsender suspendiert und Medienschaffende ausgewiesen wurden, und für die Sahelzone im Allgemeinen: Sie ist dabei, zu einer «informationsfreien Zone» zu werden. Auch in Afrika wurden mehrere Journalisten ermordet, darunter vor kurzem Martinez Zongo in Kamerun (Platz 138). In Eritrea (Platz 174) sind die Medien weiterhin der absoluten Willkür von Präsident Issaias Afeworki ausgesetzt.

Im asiatisch-pazifischen Raum befinden sich nach wie vor einige der schlimmsten Regimes der Welt für Medienschaffende. Myanmar (Platz 173), wo seit dem Militärputsch im Februar 2021 die zweitgrösste Zahl von Journalistinnen und Journalisten inhaftiert ist, und Afghanistan (Platz 152), wo sich die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende weiter verschlechtern und Journalistinnen buchstäblich aus dem öffentlichen Leben verschwunden sind, befinden sich weiterhin am Ende der Rangliste.

Die Region Naher Osten und Nordafrika (MENA) ist nach wie vor die gefährlichste Region der Welt für Medienschaffende. In mehr als der Hälfte der Länder dieser Region wird die Lage für den Journalismus als «sehr ernst» eingestuft. Die schlechte Platzierung einiger Länder, darunter Syrien (Platz 175), Jemen (Platz 168) und Irak (Platz 167), ist vor allem auf die hohe Zahl verschwundener oder als Geiseln genommener Journalistinnen und Journalisten zurückzuführen. Palästina (Platz 156) ist zwar um 14 Plätze aufgestiegen, doch wurden 2022 zwei Medienschaffende getötet. Saudi-Arabien liegt nach wie vor nahe am Ende der Rangliste. Algerien (Platz 136), das seinen autoritären Kurs durch die Verfolgung des Medienbesitzers Ihsane El Kadi bestätigt hat, verliert zwei Plätze und bleibt in der Kategorie der Länder, in denen die Lage der Medien als «schwierig» eingestuft wird.

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WIE ENTSTEHT DIE RANGLISTE?

Dies ist die zweite Rangliste der Pressefreiheit, die nach der neuen Methodik erstellt wurde, die 2021 von einem Gremium von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Medien entwickelt wurde.

Die Methodik basiert auf einer Definition von Pressefreiheit als «die Fähigkeit von Journalistinnen und Journalisten als Einzelpersonen und Kollektive Nachrichten im öffentlichen Interesse auszuwählen, zu produzieren und zu verbreiten, unabhängig von politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Einflussnahme und ohne Bedrohung ihrer physischen und psychischen Sicherheit».

Daraus ergeben sich fünf Indikatoren, die die Rangliste strukturieren und ein Bild der Pressefreiheit in ihrer ganzen Komplexität vermitteln: politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher Kontext, soziokultureller Kontext und Sicherheit.

In den 180 Ländern und Gebieten, die für die Rangliste bewertet werden, werden diese Indikatoren auf der Grundlage einer quantitativen Erfassung von Übergriffen gegen Medienschaffende und Medienunternehmen sowie einer qualitativen Analyse bewertet, die auf den Antworten von Hunderten von RSF ausgewählten Expertinnen und Experten für Informationsfreiheit (Journalist*innen, Akademiker*innen, Menschenrechtsaktivist*innen) auf mehr als 100 Fragen beruht.

Aufgrund dieser methodischen Entwicklung sind Rang- und Punktzahlvergleiche zwischen den Daten vor und nach 2021 mit Vorsicht zu geniessen.

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