Bettina Büsser, Koordinatorin Deutschschweiz von RSF Schweiz

Shitstorms, Beleidigungen, Drohungen und gar Übergriffe: Medienschaffende werden ihrer Arbeit wegen manchmal massiv angegriffen. Das ist nicht neu. Neu ist aber, dass diese Angriffe mit der Corona-Pandemie viel aggressiver und viel häufiger geworden sind. RSF Schweiz hat einige Journalistinnen und Journalisten nach ihren Erfahrungen gefragt.

«Das Virus sind die Medien» – das stand auf Plakaten, die mehrere Personen anlässlich der Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen in Liestal und Altdorf mit sich trugen. Offenbar fühlen sich zunehmend mehr Leute legitimiert, gegen dieses «Virus Medien» vorzugehen, nicht nur mit kritischen Einwänden, sondern auch mit Beschimpfungen und Drohungen. Manche gehen noch weiter: In Altdorf wurde ein Team von 20 Minuten bedrängt und bedroht (Foto: Keystone-SDA), es wurde sogar ein Stein geworfen. Und in Liestal schlug ein Kundgebungsteilnehmer einem jungen Fotografen die Faust ins Gesicht und verletzte ihn.

Fotografinnen und Fotografen sind durch ihre Ausrüstung und Tätigkeit klar zu erkennen. Deshalb, so weiss Alessandro della Valle, Cheffotograf bei Keystone-SDA, kommt es bei Demonstrationen von Corona-Massnahmenkritikern immer wieder vor, dass Keystone-Mitarbeitenden attackiert und beleidigt werden: «Es heisst dann etwa ‚Lügenpresse‘, ‚Fake News‘ oder ‚Ich hoffe, du verlierst deinen Job‘, aber auch gröbere Ausdrücke wie ‚Arschloch‘ kommen vor.» Solche Übergriffe sind laut della Valle ein neues, Corona-spezifisches Phänomen, das die Keystone-Fotografinnen und -Fotografen von anderen Demonstrationen nicht kennen. Und die Aggressivität nimmt laut della Valle zu: An den Demonstrationen in Bern und Liestal im März haben Keytone-SDA-Fotografen massive verbalen Anfeindungen und Drohungen, aber physische Übergriffe und Drohgebärden erlebt: «Die beiden Fotografen hatten im Lauf der Demos Momente der Angst um ihr physisches Wohlergehen.»

Schutz durch zusätzliches Sicherheitspersonal

Dass Medienschaffende mit Kameras und Fotoapparaten leichter auszumachen sind als Schreibende, die sich nur Notizen machen, macht sie für Aggressionen zu einem sichtbareren Ziel. Das ist nicht neu. Bei Schweizer Fernsehen SRF etwa gibt es laut

Basil Honegger, Leiter TV-Inlandredaktion, schon länger Einsätze, vor denen eine interne Risikoabschätzung durchgeführt wird, um das Gefahrenpotential eines Drehs vor Ort zu beurteilen. Dies geschieht zum Beispiel bei 1. Mai-Demonstrationen, Fanmärschen oder Demos zu politisch stark aufgeheizten Themen wie etwa Abtreibung. «Je nach Einschätzung werden die Journalistinnen und Journalisten und Kameraequipen durch zusätzliches Sicherheitspersonal geschützt oder der Drehort wird so festgelegt, dass sie aus sicherer Distanz arbeiten können», sagt Honegger. Neu sei dies auch bei Demos von Impfskeptikern oder Kritikern der Corona-Massnahmen der Fall. «Bei Dreharbeiten in der Schweiz ist der Tonfall nicht per se rauer geworden, das kommt nur punktuell vor», so Honegger, doch man stelle fest, dass der Ton gegenüber Medienschaffenden vor allem in den Social Media rauer geworden sei.

Beleidigungen und Drohungen gegen Medienschaffende sind auch bei Radio Télévision Suisse (RTS) kein neues Phänomen, doch «wir stellen fest, dass es durch die Situation infolge der Pandemie noch verschärft wird und die Debatten insbesondere in den sozialen Netzwerken stärker polarisiert werden», so RTS-Sprecherin Emmanuelle Jaquet. RTS biete Betroffenen sowohl psychologische wie juristische Hilfe an. Die Medienschaffenden würden regelmässig «zwischen den Verteidigern der individuellen Freiheiten und den Befürwortern der Gesundheitssicherheit in die Mangel genommen». Bei den Angriffen handelt es sich laut Jaquet in der Regel um Beleidigungen, die via persönlich adressierte Briefe oder Mails an die Medienschaffenden geschickt oder in den Social Media gepostet werden. Drohungen seien selten. Doch es ist in der letzten Zeit vorgekommen, dass RTS-Mitarbeitenden mit Pulver gefüllte Briefumschläge zugeschickt wurden, «laut den durchgeführten Analysen war die Substanz in jedem Fall ungiftig».

Reizthemen lösen Shitstorms aus – und Corona verschärft

Journalistinnen und Journalisten erleben nicht erst seit der Corona-Pandemie heikle Situationen. Manche werden, etwa wenn sie zu Islamismus oder Rechtsextremismus recherchieren, Ziel von so massiven Drohungen, dass die Polizei schon mal zu einem Wohnortwechsel rät. Auch wer über weniger heikel erscheinenden Themenbereichen arbeitet, kann zum Ziel eines Shitstorms werden – Reizthemen gibt es in jedem Ressort. «Wir waren es gewohnt, Briefe von unzufriedenen Lesern zu bestimmten kontroversen Themen wie dem Klimawandel zu erhalten», erzählt Sylvie Logean, Wissenschaftsjournalistin bei Le Temps: «Aber Covid hat eindeutig Bruchlinien innerhalb der Gesellschaft geschaffen.» Auch sie stellt in den letzten Monaten einen «besonders rauen» Ton fest. Und sie verzichtet meist darauf, sich die Facebook-Kommentare zu ihren Artikeln anzuschauen – wenn sie es dennoch tut, kam es vor, dass sie Dinge las wie «die Journalistin hat intellektuelle Kacke anstatt Hirn». Auf Mails aus der Leserschaft hingegen reagiert sie, auch wenn ihr darin vorgeworfen wird, sie übertreibe und säe Angst. Allerdings erhalten sie und ihre Kollegen vom Wissenschaftsressort auch Mails, in denen ihre Texte als «gossenwürdig» bezeichnet werden und ihnen mit Strafanzeigen oder sogar mit «Hängen» wegen «Mittäterschaft beim Völkermord» gedroht wird.

Eine ähnliche Drohung in Zusammenhang mit der Berichterstattung zur Pandemie erhielt die heidi.news-Journalistin Annick Chevillot. Hässliche Reaktionen erlebte auch Sami Zaïbi, der für heidi.news undercover bei einem YouTube-Kanal recherchierte, der verschwörungstheoretische und coronaskeptische Theorien verbreitet. Als seine Artikelserie unter dem Titel «Im Herzen der Verschwörungsszene» erschien, wurde er massiv angegriffen, insbesondere mit rassistischen Kommentaren. Zaïbi hatte mit harter Kritik gerechnet. Dennoch war er über schockiert über den Hass, der ihm entgegenbrandete – und insbesondere über den Kommentar «Sie werden enden wie ‚Charlie Hebdo‘». Danach wurde auch noch seine Mobilenummer auf Facebook veröffentlicht. «Zu meinem Erstaunen erhielt ich keinen einzigen Anruf», so Zaïbi: «Offenbar ist diese Art von Shitstorm eine momentane, unüberlegte Hasstirade, die automatisch in die Tastatur gehauen wird.»

«Wenn es um Corona-Massnahmen oder das Impfen geht, explodiert es»

Mit diesen Kommentaren umgehen müssen auch diejenigen, die bei Medien für den Social-Media-Bereich zuständig sind: «‘Wir finden raus, wer du bist und wo du wohnst‘, schrieb kürzlich als Antwort auf eine meiner Interventionen als Socialmedia Manager ein Kommentierer. Das hat mich wirklich erschreckt, so etwas ist mir noch nie passiert», erzählt Gerry Reinhardt, Socialmedia Manager des Ostschweizer Newsportals FM1Today. Seit fünf Jahren arbeitet er in dieser Funktion, weiss, dass bei manchen Themen die Facebook-Kommentare zum Teil sehr heftig, werden, etwa wenn es um Klima, Tierquälerei oder Pädophilie gehe. Aber seit der Pandemie habe die Zahl der Facebook-Kommentare, vor allem aber die Aggressivität darin, massiv zugenommen: «Wenn es um Corona-Massnahmen oder das Impfen geht, explodiert es.»Manche verbreiten Verschwörungstheorien, bezeichnen Bundesrat Berset als Diktator – vieles geht aber gegen die Medien: «Uns wird vorgeworfen wir würden Lügen und Fake News verbreiten», sagt Reinhardt: «Und es bringt überhaupt nichts, wenn ich versuche zu erklären, dass dem nicht so ist.» Besonders bei den Facebook-Kommentaren sei die Stimmung aggressiv, bei Twitter und Instagram weniger. Kollegen in ähnlichen Funktionen erlebten dasselbe. «Die Arbeit ist extrem anstrengend geworden», so Reinhardt: «Und ich fürchte ein bisschen, dass es noch schlimmer wird.»

Die Befürchtung Reinhardts teilen auch andere Medienschaffende. Manche von ihnen haben zwar gegenüber RSF Schweiz von Vorwürfen und Drohungen erzählt, möchten damit aber nicht an die Öffentlichkeit treten. Denn sie befürchten, dass dies nur noch mehr Hasskommentare nach sich zieht. Andere machen die Situation öffentlich, indem sie Ausschnitte aus solchen Hassbotschaften posten. Und Pascal Scheiber fragte im Januar die Journalistinnen und Journalisten auf Twitter: «Wie geht ihr draussen mit Hass & Wut gegenüber euch um? (…) Ist mir nur grad heute mehrmals passiert». Scheiber, der für Blick TV arbeitet, hat schon vor der Pandemie manchmal Sprüche gegen die Medien gehört, wenn er mit der Kamera unterwegs war: «Aber nicht so oft und nicht so extrem wie jetzt. Nun heisst es etwa ‚‘Ihr gehört zum System‘, ‚ihr lügt‘ oder ‚bei deiner Berufswahl ist einiges schief gelaufen‘». Wut schlug ihm zum Beispiel entgegen, als er über die coronabedingte Absage der Skirennen in Wengen berichtete. Er versuche jeweils, auf die Leute einzugehen und seine Position als Journalist darzulegen, «doch das hat nichts genützt».

Mitverantwortung von Politikerinnen und Politikern

Scheiber ist es wichtig, dass die Aggressionen gegen Medienschaffende thematisiert werden. Dies etwa, um Politikerinnen und Politiker auf ihre Mitverantwortung hinzuweisen: «Wenn sie unsere Berichte auf Socia Media als Fake News bezeichnen, obwohl sie sauber recherchiert sind, tragen sie zu dieser Stimmung bei.» Und auch die Kolleginnen und Kollegen, die nicht «draussen» unterwegs sind, sieht er in der Pflicht: «Je nachdem, wie sie die Titel setzen, die Filme schneiden, lösen sie beim Publikum etwas aus. Dessen sollten sie sich bewusst sein. Denn wir erleben die Reaktionen darauf im direkten Kontakt mit den Leuten.»

Wir möchten die Entwicklung dieses Phänomens weiterhin verfolgen und erfassen und bitten Journalistinnen und Journalisten, die solche Drohungen erhalten, uns zu kontaktieren (info@rsf-ch.ch).

Partagez cet article !