Das Gesetz über «ausländische Agenten» in Russland betrifft sehr viele unabhängige Medien. Sie machen mehr als ein Drittel der vom Gesetz erfassten Akteure aus und werden systematisch durch die russische Gesetzgebung unterdrückt. Reporter ohne Grenzen (RSF) hat die Listen des russischen Justizministeriums untersucht, auf der die «ausländischen Agenten» und «unerwünschten Organisationen» genannt werden. Diese Listen dienen Russland als bevorzugte Zensurinstrumente. RSF prangert die Verunglimpfung der Medien als «fünfte Kolonne» an.

Die schändlichen Listen werden immer länger. Am 26. Juli führten die russischen Behörden die russische Ausgabe der deutschen Bild-Zeitung als «ausländischen Agenten» auf, nur zwei Wochen nachdem sie am 10. Juli die renommierte Tageszeitung Moscow Times auf die Liste der «unerwünschten Organisationen» gesetzt hatten. Damit reihen sie sich in die Liste der rund 300 Medien ein, die in Russland mit diesem Etikett versehen wurden. Diese Kennzeichnungen sind das Resultat einer Gesetzgebung, die sich von der Rechtsstaatlichkeit abgewandt hat, um jede abweichende Stimme zum Schweigen zu bringen. Die Gesetze ziehen in erster Linie darauf ab, unabhängige russische Medien zu zerschlagen. Das russische Parlament, die Duma, baut dieses Gesetzesarsenal immer weiter aus – am 23. Juli verabschiedete sie in einer Lesung einen Änderungsantrag zur Ausweitung des Gesetzes über «unerwünschte Organisationen».

Darüber hinaus werden aktuell fast 300 Medienakteure als «ausländische Agenten» oder «unerwünschte Organisationen» gebrandmarkt. Eine Zahl, die sich seit Russlands gross angelegter Invasion der Ukraine im Februar 2022 verdreifacht hat, so die Analyse von RSF auf der Grundlage von Daten, die von der russischen NGO OVD-Info erfasst wurden.

Mehr als ein Drittel der ‹ausländischen Agenten› üben eine Tätigkeit aus, die mit dem Mediensektor zu tun hat. Durch dieses Gesetz und das Gesetz über ‹unerwünschte Organisationen›, das Verrat suggeriert, stigmatisieren die russischen Behörden Journalisten als ‹fünfte Kolonne›. RSF verurteilt diese Instrumente der systematischen Medienzensur des Kremls, um der Bevölkerung den Zugang zu verlässlichen Informationen zu verwehren.

Jeanne Cavelier
Leiterin des Osteuropa- und Zentralasien-Büros von RSF

Von den 810 Akteuren, die das russische Justizministerium bislang als «ausländische Agenten» oder «unerwünschte Organisationen» eingestuft hat, fallen 292 in die Kategorie «Medien». Dabei handelt es sich um Medienakteure, die insgesamt ein Drittel aller Zielorganisationen ausmachen. Das sind dreimal so viele wie diejenigen im zweiten aufgelisteten Sektor, den «politischen Einheiten».

«Agent des Auslands»: ein stigmatisierender Status mit unscharfer Definition

In Russland kann dieser Status des «ausländischen Agenten» jeder Einzelperson, jeder juristischen Person sowie jeder nicht eingetragenen Vereinigung von Bürgern zuerkannt werden, die an politischen oder «anderen» Aktivitäten teilnimmt, Unterstützung erhält oder «in anderer Form unter ausländischen Einfluss gerät». Diese unscharfe Definition unterscheidet sich grundlegend von den Gesetzen, die sich mit ausländischer Einflussnahme in Rechtsstaaten befassen, in denen die Kriterien klar definiert und transparent sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Russland am 18. Juni wegen dieses Gesetzes, weil es so ungenau ist und daher willkürlich angewendet wird.

Jede Person oder Organisation, die auf dieser Liste steht, muss vor jeder ihrer Veröffentlichungen (Text, Audio oder Video) den Vermerk «ausländischer Agent» in einer Schriftart anbringen, die doppelt so gross ist wie der übrige Inhalt. Ausserdem muss sie ihre Einkünfte und Ausgaben dem Justizministerium melden. Diese Massnahmen zielen darauf ab, die Aktivitäten der so bezeichneten Personen und Medien, die zunehmend geächtet werden, genau zu überwachen und zu kontrollieren. Seit diesem Jahr vermeiden es die Propagandaorgane des russischen Staates und die regierungsnahen Medien, diese Personen zu nennen, während sie dies zuvor unter Nennung ihres Status taten.

21 Medien als «unerwünscht» eingestuft

Als erstes Medium, das vor drei Jahren in Russland als «unerwünscht» deklariert wurde, musste die investigative Website Proekt am 15. Juli 2021 ihre Tätigkeit im Land einstellen, da sonst eine strafrechtliche Verfolgung ihrer Mitarbeiter gedroht hätte. Seitdem wurden 20 weitere Medien als «unerwünschte» Organisationen deklariert .Besonders betroffen sind Medien, die sich auf investigative Berichterstattung spezialisiert haben. Drei von ihnen wurden sowohl auf die Liste der «unerwünschten» Organisationen als auch auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt: das Oppositionsmedium The Insider, das Netzwerk von Forschern, Ermittlern und Journalisten Bellingcat und das Online-Medium Istories.

Bei den «unerwünschten Organisationen» handelt es sich offiziell um ausländische Organisationen, die eine «Bedrohung für Russland» darstellen. Die Verfolgung von Personen, die in Russland mit einer solchen Organisation zusammenarbeiten oder zu ihrer Finanzierung beitragen, kann verwaltungsrechtlicher Natur sein und mit einer Geldstrafe geahndet werden. Im Wiederholungsfall kann eine solche Aktion aber auch strafrechtlich verfolgt und mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Bereits der kleinste Hinweis auf eine solche Organisation oder die blosse Wiederveröffentlichung von Informationen, die von einer solchen Organisation stammen, reichen aus, um eine Strafverfolgung auszulösen.

Der Angriff auf die Medien ist der «Lebensnerv» des Krieges gegen die Ukraine

Die illegale Annexion der Krim im Jahr 2014 markierte einen Wendepunkt in der Unterdrückung der Medien und den Eintritt in einen anhaltenden Informationskrieg in Russland. Während «Trollfabriken» die Propaganda des Kremls verstärken, werden unabhängige Medien, die bereits als «Feinde im Inneren» stigmatisiert wurden, seit 2017 mit der Kennzeichnung als «Agenten des Auslands» behaftet. Seit Dezember 2020 trifft dies in gleicher Weise auf Journalisten zu. 2021 wurden immer mehr Organisationen zur Zielscheibe. Und im Jahr darauf explodierte die Anzahl nochmals während der gross angelegten russischen Invasion in die Ukraine. Mittlerweile mussten mehr als 1’500 russische Journalisten ins Exil flüchten, da sie in ihrer Heimat an ihrer Arbeit gehindert wurden.

Seit Anfang diesen Jahres wurden 17 Medienschaffende und 13 Organisationen auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt, während acht Medien auf die Liste der «unerwünschten Organisationen» gesetzt wurden. Zwar ging im Jahr 2024 die Zahl der als «ausländische Agenten» deklarierten Journalisten im Vergleich zu 2022 und 2023 zurück, dafür wurden immer mehr Medienhäuser als ganzes als «ausländische Agenten» eingestuft. Auch die Anzahl «unerwünschten Organisationen» erreichte 2024 einen neuen Rekord und übertraf die Zahlen der Jahre 2022 und 2023.

Unter dem Einfluss Russlands entstehen derweil ähnliche Gesetze in anderen Ländern, etwa im zentralasiatischen Kirgisistan. Ebenso aber auch in Georgien oder in Serbien.

Russland belegt auf der von RSF herausgegebenen Rangliste der Pressefreiheit 2024 den 162. Platz von 180 Ländern.

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