Der Investigativ-Desk von Reporter ohne Grenzen (RSF) hat eine gross angelegte Desinformationskampagne des französischen Medienkonglomerats Vivendi aufgedeckt, die sich direkt gegen RSF richtet. Dazu untersuchte der Investigativ-Desk eine gefälschte Website, die Kreml-ähnliche Techniken einsetzte, um RSF zu diskreditieren, und entdeckte dabei, dass die Täter nicht in der Nähe von Russland zu finden waren. Die Spuren der Website führten zu einem Unternehmen im Zentrum von Paris, das von den Büros von Vivendi aus operiert: einem Medienkonzern, der von der Familie des französischen Milliardärs Vincent Bolloré geführt wird. Ihm sagt man nach, dass er Frankreichs Rechtsextremen zu einer noch nie dagewesenen Macht verholfen hat.
RSF wurde von den Medien des Vivendi-Konzerns ins Visier genommen, nachdem das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d’État (Staatsrat), am 13. Februar 2024 eine historische Entscheidung getroffen hatte: Das Gericht wies die französische Rundfunkregulierungsbehörde ARCOM an, dafür zu sorgen, dass ein Fernsehsender im Besitz von Vivendi, CNews, die Anforderungen des französischen Rechts in Bezug auf Wahrhaftigkeit, Unabhängigkeit und Pluralismus erfüllt. Die Entscheidung war das Ergebnis einer von RSF eingereichten Beschwerde, nachdem sich ARCOm geweigert hatte, ihre Regulierungsbefugnis gegenüber CNews vollständig auszuüben.
Dem Entscheid des Gerichts war die Missachtung der französischen Gesetze durch CNews vorausgegangen. Der Sender hatte sich geweigert, sich an Vorschriften zu halten, die unter anderem die Sendezeit für Politiker und die Berichterstattung über verschiedene Meinungen regeln. Anstatt die Inhalte entsprechend anzupassen und damit die Grundregeln des Journalismus einzuhalten, holte Vivendi zum Gegenschlag aus: Die Sendungen von CNews sowie des Radiosenders Europe1 beinhalteten bissige Kommentare zum Gerichtsurteil, und auf der Titelseite der Wochenzeitung Journal du Dimanche wurde die RSF als Feind der Meinungsfreiheit dargestellt.
Die Angriffe gegen die RSF erreichten einen nie dagewesenen Höhepunkt, als der Investigativ-Desk von RSF auf eine gefälschte Website stiess, die Vivendi zur Entdeckung einer Anti-RSF-Kampagne führte. Diese Kampagne wurde von Progressif Media, einem kleinen Unternehmen, das sich als Kommunikationsagentur ausgibt, orchestriert. RSF fand heraus, dass Vivendi nicht nur Anteilseigner von Progressif Media ist, sondern diese auch in ihren Büros im 8. Arrondissement in Paris beherbergt.
Eine Woche nach der historischen Entscheidung des Gerichts gegen ARCOM ging eine Website mit dem Logo und der visuellen Identität von RSF sowie einem ähnlichen Domainnamen online. Unter dem Namen «Sectaires Sans Frontières» (Sektierer ohne Grenzen) beschuldigte die Website RSF, die «Katalogisierung von Journalisten» zu fördern und zu versuchen, «die französische Landschaft der audiovisuellen Medien gemäss ihrer Vision von Pluralismus zu verändern». Die Seite erschien schnell als eines der ersten Ergebnisse bei der Google-Suche nach «RSF», da Progressif Media für eine Google-Werbekampagne bezahlt hatte. Die gefälschte Website war darauf ausgelegt, die Leser in die Irre zu führen. Bei den am Ende der gefälschten Pressemitteilung aufgeführten Pressekontakten handelte es sich um zwei Telefonnummern, die schon häufig für Betrugsversuche gemeldet wurden.
Fälschung, Täuschung, Cybersquatting, Trolling, Desinformation… Die Agentur Progressif Média bedient sich des gesamten Arsenals der Verunglimpfung des öffentlichen Diskurses von heute. Unter dem Deckmantel einer Volksbewegung führt das Unternehmen Beeinflussungs- und Desinformationskampagnen durch, wie zum Beispiel die gegen RSF gerichtete. Befürwortet Vivendi – das diese Agentur beherbergt und an ihr beteiligt ist – diese Methoden und Aktionen? Unterstützt es diese Kampagnen zu einem Zeitpunkt, an dem es mit der französischen Regulierungsbehörde für das terrestrische Digitalfernsehen (TDT) über die Erneuerung seiner Kanäle verhandelt? Man kann sich nicht vor der Nationalversammlung auf das Recht auf Information berufen und sich dann an seiner Verschlechterung mitschuldig machen.
Arnaud Froger, Leiter des RSF-Investigativ-Desks

Screenshot der gefälschten Seite von RSF
Nach einigen Tagen der technischen Untersuchung entdeckte RSF, dass es nicht nur einen, sondern fünf Domain-Namen gab, die RSF-Logos verwendeten. Das macht es unwahrscheinlich, dass es sich um einen Einzelfall handelte. RSF war in der Lage, das Unternehmen zu identifizieren, das die Domain, das Content Delivery Network, die Namensserver, den Webhost, den verwendeten Webserver und die echte IP-Adresse hinter der gefälschten Website verwaltet.
Eine vielschichtige Kampagne zur Diskreditierung der Gegner
Diese Elemente ermöglichten es, den Ursprung der gefälschten Website zu ermitteln. Die technischen Merkmale und der Modus Operandi der gefälschten RSF-Webseiten waren einer kleinen Gruppe von Websites ähnlich, wenn nicht identisch. Zwei dieser Seiten haben inaktive Domains, die auf Jean-Marie Le Pen, den Gründer der rechtsextremen Partei Front National, verweisen. Zu den aktiven Domains gehört einerseits «Corsaires de France», ein Projekt, das sich direkt gegen die sogenannten Sleeping Giants wendet – eine Gruppe anonymer Bürger, die Hassreden verbreiten sowie Marken unter Druck setzt, damit diese Anzeigen von Medien zurückzuziehen. Andererseits gehört zu den Domainnamen «Fan de CNews», das den Fernsehsender und seine führenden Persönlichkeiten sowohl auf einer Website als auch auf Social Media bewirbt.
Es ist schon seltsam, dass die gefälschte RSF-Website auf demselben Webserver gehostet wird wie die «Fan de Cnews»-Website. Die Verschleierung der IP-Adresse eines Webservers ist eine Technik, die typischerweise von bestimmten cyberkriminellen Gruppen verwendet wird, die von totalitären Regimen bezahlt werden. Diese Gruppen sind dafür bekannt, dass sie Desinformations- und sogar Phishing-Kampagnen über missbräuchliche Domain-Namen durchführen, mit einem Hauptziel: die Demokratie zu untergraben.
Nicolas Diaz, Leiter der Abteilung für digitale Sicherheit bei RSF
Am 20. Februar, einen Tag bevor die gefälschte RSF-Website online ging, waren die Corsaires de France («Freibeuter Frankreichs») die ersten, die das Bildmaterial von «Sectaires sans frontières» in einem Tweet verwendeten. Am selben Tag wurde auf ihrer Website eine Seite mit dem Titel «Kampf gegen RSF» eingerichtet, auf der die Nutzer aufgefordert wurden, vorformulierte Tweets zu veröffentlichen. Am 6. März rief ein Video eines Mannes mit verschwommenem Gesicht und veränderter Stimme dazu auf, sich der «Flotte von Freibeuterinnen und Freibeuter» anzuschliessen, um gegen RSF zu kämpfen, welches als «eine Handvoll politischer Kommissare» beschrieben wurde, die CNews zensieren wollten. Nach Angaben von RSF wurde die Kampagne an mehr als 16’000 Personen gesendet. Es handelte sich dabei um eine «aktive Gemeinschaft», die allerdings nur bescheidene Ergebnisse lieferte: Das Video und die Tweets erhielten zusammen weniger als 1000 direkte Zugriffe.

Internes Dokument von Progressif Media, das den Kauf von 5 Domains beansprucht, um die Identität von RSF zu kapern
Diese Desinformationskampagne, die an mehreren Fronten angreift, wurde von Progressif Media entwickelt und durchgeführt. Das Unternehmen war bereits Gegenstand einer Untersuchung der französischen Tageszeitung Libération wegen dessen Beteiligung an mehreren Projekten rechtsextremer Gruppen – darunter die Website der Génération Identitaire, einer kleinen Gruppe mit gewalttätigen Tendenzen, die 2021 aufgelöst wurde. Mit der Behauptung, «die beste Unterstützung für diejenigenzu bieten, die sich für eine tugendhaftere Welt einsetzen», orchestriert das Unternehmen auch auf versteckte, aber indiskrete Weise Einflusskampagnen zugunsten der Mediengruppe von Bolloré, mit der es sehr eng verbunden ist.
Vivendi ist seit 2022 Anteilseigner von Progressif Media. Damals erwarb Vivendi 8,5 % der Anteile von Zewatchers, einer evangelistischen Stiftung, die von Chantal Barry, einer Bolloré nahestehenden Geschäftsfrau, geleitet wird. Barry produzierte «Bienvenue au monastère» («Willkommen im Kloster»), eine umstrittene Reality-TV-Show, die Anfang 2024 auf dem Fernsehsender C8 ausgestrahlt wurde. Dieser ist ebenfalls im Besitz der Familie Bolloré. Die Prominenten, die zur spirituellen Einkehr der Show eingeladen wurden, wurden von religiösen Gemeinschaften beherbergt, die wiederholt wegen sektenähnlicher Tendenzen und Sexualverbrechen in Kritik geraten waren.
Ein geleaktes internes Dokument beschreibt die Kampagne
Auf Anfrage von RSF antwortete Vivendi, es wolle sich nicht zu der Situation äussern, und wiederholte, dass es nur ein Minderheitsaktionär von Progressif Media sei. Ein internes Dokument mit dem Titel «Vivendi Reporting», das RSF vorliegt, beschreibt jedoch die gesamte Kampagne gegen RSF. In dem Dokument, das von Progressif Media für Vivendi erstellt wurde, heisst es, dass fünf Domainnamen gekauft wurden, um «das Google-Ranking zu dominieren» und ein «Manifest über das Sektierertum von RSF» zu verbreiten. In dem Dokument wird ein strategischer Cyberangriff mit Hilfe einer als «Typosquatting» bekannten Technik deutlich beschrieben.
Die Methode des Typosquatting, bei der echte Domänennamen nachgeahmt werden, um Internetnutzer zu täuschen, wird häufig von Kreml-Agenten zur Verbreitung von Desinformationen eingesetzt. Typosquatting wird auch von Cyberkriminellen eingesetzt, die es auf sensible Informationen, persönliche Daten oder Geld abgesehen haben. Die Taktiken von Progressif Media ähneln eher den Methoden von Söldnern als denen von Bürgeraktivisten.
In dem Dokument wird auch der Einsatz von Trolling- und Hacking-Techniken beschrieben. Um ihre «Gegenkampagnen» zu finanzieren, behauptet Progressif Media, schockierende Informationen über die «Finanzierung», «Heuchelei» und «militante Voreingenommenheit» des RSF gesammelt zu haben. Der Direktor des Unternehmens, Émile Duport, schweigt, obwohl er mehrfach von RSF kontaktiert wurde. Wie finanziert er die Einflusskampagnen seines Unternehmens, wie die gegen RSF gerichtete? Wissen die Kunden von Progressif Media von diesen dubiosen Kampagnen und den fragwürdigen Mitteln, mit denen sie durchgeführt werden?
Überwachungskampagnen gegen die Konkurrenten von Vivendi
Neben den gefälschten Websites, die sich gegen RSF und Sleeping Giants richten, laufen derzeit mindestens zwei weitere Beeinflussungskampagnen, die den Interessen von Vivendi zugute kommen. Nach Informationen von RSF wird CNews in der ersten Kampagne als «einziger Ort der freien Meinungsäusserung» und als einziger Sender dargestellt, «der sich nicht durch das Diktat einer fälschlich selbstgerechten Gesellschaft zum Schweigen zwingen lässt». Am 23. Mai 2024 wurde CNews zu einer Geldstrafe in Höhe von 50’000 Euro verurteilt, weil Geoffroy Lejeune, Chefredakteur von Le Journal Du Dimanche, in der Sendung Hassparolen geäussert hatte. Am Tag nach der Bekanntgabe der Geldstrafe startete der CNews-Fan-Account auf X (früher Twitter) eine Petition zur Unterstützung des Nachrichtensenders. Die Kampagne ähnelt einer Graswurzelbewegung, war aber in Wirklichkeit eine Operation unter der Leitung von Progressif Media, wie RSF dokumentieren konnte.
Zu einem Zeitpunkt, an dem die Lizenz von CNews bei TDT zur Erneuerung ansteht, verstärkt Progressif Media seine Bemühungen zur Rettung des seit Anfang 2024 am stärksten sanktionierten Senders (nur der Schwestersender C8, der sich ebenfalls im Besitz von Vivendi befindet, ist gleichauf). Es scheint, dass die Kommunikationsagentur vor nichts zurückschreckt, da Mitglieder ihres Teams damit beauftragt wurden, die Programme der Konkurrenz – meist öffentlich-rechtliche Programme – zu beobachten und den «aktivistischen Hintergrund ihrer Gäste» zu überprüfen. Die Befürchtung, nach der Entscheidung des Staatsrats in gleicher Weise von ARCOM überwacht zu werden, veranlasste die CNews-Moderatoren, -Mitarbeiter und -Gäste, sich zu wehren. Infolgedessen haben Progressif Media und seine «Privatiers» in den letzten Wochen eine Reihe von Berichten an ARCOM eingereicht – bisher ohne Erfolg.
RSF behält sich das Recht vor, rechtliche Schritte einzuleiten.
RSF bedankt sich bei Epieos, Onyphe und Crowdsec für ihren Beitrag zu ihrem Instrumentarium zur Analyse von Cyberbedrohungen. RSF dankt auch den freiwilligen Experten, die zu den technischen Recherchen in dieser Untersuchung beigetragen haben.
Wenn Sie uns Informationen zu diesem Thema mitteilen möchten, kontaktieren Sie uns bitte unter investigation[at]rsfsecure.org.